Unterwegs mit dem Wind
von Wolgast auf den Högakull

April 2024

Mit dem Wind ...  

... aus dem Rahmen gefallen. Also nicht ich – ausnahmsweise. Bei einem Stadtbummel durch Greifswald fiel es mir – wie wahrscheinlich den meisten Passanten – sofort ins Auge: Das Fenster, das da offensichtlich mit voller Absicht im zweiten Stock eines frisch renovierten Wohnhauses schief eingebaut worden war. Nicht nur ein bisschen aus dem Lot, sondern so richtig schief, zerstörte es die Symmetrie einer absolut waagerechten Reihe von vier weiteren Fenstern auf derselben Etage. Natürlich blieb ich vor dem Haus stehen und machte mir so meine Gedanken. Schön oder nicht so schön? Schnapsidee, Design oder pure Provokation? Und: Wie regeln die das wohl mit den Blumentöpfen auf dem Fensterbrett?
Gut konnte ich mir die unterschiedlichsten Kommentare vorstellen. Denn eine Meinungsäußerung fordert diese besondere Form der Architektur zweifellos heraus. „Muss der so aus der Reihe tanzen?!“ „Sieht voll bescheuert aus!“ „Cool!“ „Mit Wasserwaage wäre das nicht passiert!“ „Die Welt wird immer verrückter!“ „Das kommt davon, wenn man sparen will und keine deutschen Handwerker beschäftigt!“ „Wieder eine Bausünde mehr! Dass da das Bauamt nicht einschreitet?“
Aus dem Rahmen fallen, aus der Reihe tanzen oder einfach von der Norm abweichen. Es fällt uns oft schwer, das zu akzeptieren. Vor allem, wenn es dabei um unsere Mitmenschen geht. Kleidung, Musikgeschmack aber vor allem auch Ansichten, Verhaltensweisen und Lebensmodelle: Wer von der gesellschaftlichen Norm abweicht, nicht den vorgegebenen und allgemein akzeptierten Verhaltensmustern entspricht oder sich über bestehende Konventionen hinwegsetzt wird ganz schnell zum Außenseiter … gemacht!
Klar sind wir alle seeeehr tolerant. Aber was zu weit geht, geht zu weit! Und man muss doch auch nicht jeden Blödsinn ertragen! Manchmal, das gebe ich zu, sind das auch meine Gedanken. Dabei kann es mir persönlich doch völlig egal sein, wer wie viele Tattoos, Nasenringe oder sonstigen, für mich konservativen alten Knacker höchst exotischen Körperschmuck trägt. Es geht mich auch nichts an, wer sich wie ernährt, für welche Lebensgemeinschaftsmodelle sich meine Mitmenschen entscheiden, wie sie ihren Urlaub und ihre Freizeit verbringen. Und auch, ob sie ihren Vorgarten pflegen oder verrotten lassen kann mir schnurzpiepe sein.
Gleichgültigkeit gegenüber Andersdenkenden oder –lebenden kann aber nur ein erster Schritt sein, auf den weitere, nämlich Toleranz und Akzeptanz, folgen müssen.
Leben und leben lassen! Vielleicht ist genau das die Absicht des Bauherrn gewesen, der die Greifswalder Innenstadt mit seinem schiefen Fenster um eine skurrile Note bereichert hat.
Die Frage ist in meinen Augen berechtigt, wie wir als Christen dazu kommen, Menschen, die durch ihr Aussehen, ihr Verhalten oder ihren Lebensstil von der Norm abweichen oder aus dem Rahmen fallen zu kritisieren, zu korrigieren oder auch häufig zu diffamieren und zu verfolgen. Wie kommen wir eigentlich dazu, an Gottes Schöpfung unsere menschlichen Maßstäbe anzulegen? An eine Schöpfung, die wir trotz intensiver Forschung, Gentechnik und KI nicht einmal ansatzweise verstanden haben.
Was ist für Gott normal? Wir wissen es nicht! Auch wenn es immer wieder Menschen gibt, die meinen, uns vom Gegenteil überzeugen zu müssen. Schlussendlich entscheiden nicht wir, was oder wer aus dem Rahmen fällt, sondern allein er.
Aber wie dann umgehen, mit all den in unseren Augen eigenwilligen und ungewohnten Erscheinungen, merkwürdig fremden Sitten und Bräuchen, Sonderlingen oder Exoten?
Halten Sie es doch einfach mit dem norddeutsche Dichter Rudolf Tarnow, der in seinen Ringelranken von 1927 meint:

Mötst di nich argern, hett keinen Wiert,
Mötst di blot wunnern, wat all passiert,
Mötst ümmer denken, de Welt is nich klauk,
Jeder hett Grappen, du hest se ok!