Unterwegs mit dem Wind
von Wolgast auf den Högakull

März 2023

Mit dem Wind ...     

… beginnt im März so langsam wieder die Zeit des morgendlichen Durchblicks. Für mich als Radfahrer, wie auch für die Rehe, die in den dunklen Monaten des Jahres immer mal wieder unvermittelt vor meinem Rad auftauchen.
Wildunfall mit dem Rad ist quatsch? Nee, nee! Den Hund zwischen den Speichen oder an der Hacke kennt fast jeder, der regelmäßig mit dem Rad unterwegs ist. Aber auch die lieben Rehlein warten in der Dunkelheit nicht unbedingt geduldig am Wegesrand, bis ein schlecht ausgeleuchtetes Zweirad an ihnen vorbeigerauscht ist. Und während beim Duell Auto gegen Reh die Sache für das Reh meist deutlich schlechter als für das Fahrzeug endet, treffen bei der Begegnung von Reh und Rad zwei durchaus gleichstarke Kontrahenten aufeinander. Ausgang des Duells? Ungewiss!

Aber jetzt wollen wir in diesem wunderbaren Vorfrühling mal nicht an die dunklen Wintermonate und deren mögliche Gefahren denken. Die Rehe sind wieder sicher – zumindest vor mir und meinem Rad – und meine allmorgendlichen Begleiter auf dem Weg zur Arbeit.
Neulich graste friedlich ein ansehnlicher Sprung Rehe nur wenige Meter neben meinem Radweg auf dem freien Feld. Mit dem Frieden war es natürlich vorbei, als ich mich mit meinem klapprigen Drahtesel näherte. Die Rehe machten sich eilends vom Acker. Alle, bis auf eines. Das graste seelenruhig weiter, während die anderen Rehe in gebührender Entfernung verharrten und die Szenerie beobachteten: Hier der tiefenentspannte Kollege, der sich nicht bei der Nahrungsaufnahme stören ließ, und dort die heranbrausende Gefahr auf zwei Rädern. Man sah den Tieren die Irritation förmlich an.
Und auch ich begann zu überlegen: War dieses einzelne Reh einfach taub und blind, sodass es weder die Gefahr noch die flüchtenden Kollegen registrierte? Oder war sein Hunger größer, als die Angst? Litt es eventuell an galoppierender Selbstüberschätzung, war es besonders mutig, oder einfach ein notorischer Querdenker und Ignorant? Ja, oder handelte es sich hier vielleicht um ein besonders schlaues Reh, quasi einen „Reh-Einstein“ oder ein „Marie Curie-Reh“, das selbstverständlich wusste, dass ich auf meinem Rad keine Gefahr darstellte?

Eine Antwort auf all diese Fragen? Die muss ich Ihnen schuldig bleiben. Das Reh hat nämlich nur gefressen, nicht geredet. Ein sprechendes Reh wäre dann wahrscheinlich ein noch größeres Mysterium gewesen – für mich, aber bestimmt auch für seine Kollegen. Vielleicht hätte es mir ja gern erzählt, warum es stehengeblieben war. Aber mit vollem Mund …
Gibt es sie nicht auch, in Ihrem Sprung, in Ihrer Herde, in ihrem Bekanntenkreis - diese eigenwilligen Rehe? Sicher finden sich da so einige! Und manchmal nerven die ganz gewaltig, mit ihren Extratouren, ihrem unkonventionellen Verhalten, ihren absurden Aktionen und Reaktionen. Und trotzdem wäre das Leben, ganz ohne solche Exoten, in vieler Hinsicht langweiliger, farb- und freudloser.
Ja und die ein oder andere Erfindung, Entdeckung oder geniale Idee verdankt ihnen die Menschheit auch, diesen Spinnern und Sonderlingen, die oft im Umgang so richtig anstrengend sind, die sich nicht anpassen wollen, die immer und stets gegen den Strom schwimmen.
Jesus war im Übrigen auch einer von diesen Spinnern. Ein richtiger Oberspinner, wenn man die meisten seiner Zeitgenossen gefragt hätte. Da waren sich Juden und Römer tatsächlich mal ziemlich einig. Und gleichzeitig ist dieser Jesus ein ausgesprochen repräsentatives Beispiel dafür, dass die Anerkennung von genialen Sonderlingen und deren Leistung oft erst posthum erfolgt.
Mich irritiert immer wieder, dass gerade unsere Kirche, deren Existenz auf einer so eigenwilligen Figur wie Jesus Christus fußt, auch nach Jahrhunderten so wenig Verständnis für kreative Köpfe in und außerhalb der eigenen Reihen hatte und hat. Leonardo Da Vinci, Giordano Bruno, Galileo Galilei oder auch Charles Darwin – die Reihe ließe sich endlos fortsetzen – waren vielleicht keine angenehmen Zeitgenossen, Exoten und bestimmt nicht angepasst. Aber wo stünden wir heute ohne ihre Gedankenexperimente und Entdeckungen?

Vielleicht sollten wir die Fastenzeit in diesem Jahr einmal dazu nutzen, etwas sparsamer mit unseren Vorverurteilungen zu sein. Nicht gleich alles, was uns auf den ersten Blick sonderbar oder obskur erscheint, mit Stumpf und Stiel ausrotten oder zumindest in eine Schublade, ganz weit unten im Schreibtisch stopfen zu wollen.
Zwar ist nicht jeder Spinner, der uns begegnet, genial. Einzelne sind auf den zweiten Blick sogar richtig gefährlich. Aber wir – ich zitiere hier mal meine Oma – müssen die ja auch nicht gleich heiraten! Und für all diejenigen, denen genau das passiert ist: Sie lieben doch ihren Spinner oder ihre Spinnerin! Da bin ich mir sicher!