… an einem Morgen Anfang November über den Heiligen Martin nachgedacht. Aus gutem Grund. Der Wind kam an diesem Tag nämlich besonders eisig daher und blies mir außerdem direkt ins Gesicht. Mann, war das kalt! Wie damals, als Martin seinen Mantel mit dem frierenden Bettler geteilt hat. Während ich bibbernd weiter in die Pedale trat, stellte ich mir vor, wie das mit dem Teilen wohl so vonstattengehen würde. Heutzutage. Immerhin saß ich – wie dereinst der Heilige – auf meinem Pferd, also dem Drahtesel, und trug eine leidlich wärmende Jacke. Teilen? Die rechte Seite an den Bettler, während ich die linke behielt? Oder er die obere Hälfte und ich das Stück von den Armen abwärts? Allein die Vorstellung reichte aus, um mein Kältezittern zu einem Crescendo anwachsen zu lassen. Wem wäre denn geholfen, wenn wir beide erfroren am Straßenrand enden würden? Zum Glück war weit und breit kein frierender Bettler zu sehen, auf der Landstraße zwischen Neeberg und Krummin. Die waren da auch eher selten unterwegs. Außerdem wäre das mit dem Teilen ja spätestens am fehlenden Schwert gescheitert. Ich zumindest hatte meines zusammen mit dem Morgenstern und der Turnierlanze zu Hause gelassen. Aber wer weiß: Vielleicht hatten die heutigen Bettler für solche Zwecke immer eine scharfe Schere parat? Wie auch immer: Das musste damals eine ziemlich unkomfortable Situation gewesen sein, für den Heiligen Martin. Auch wenn sein Mantel mit Sicherheit deutlich voluminöser gewesen ist, als meine dünne, gewichtsoptimierte Fahrradjacke. Hat er schon verdient, dieser Herr Martin, seine Heiligsprechung! Im gut beheizten Büro fanden die Lebensgeister langsam wieder zurück in meinen Körper. Aber mussten die unbedingt den Weg durch meine tiefgekühlten Finger nehmen? Verdammt! Das schmerzte gewaltig! Und trotzdem: Ich war froh über den Luxus eines wohlig warmen Arbeitsplatzes zu verfügen. Fingerauftauschmerzen hin oder her. Abgeben, teilen, sich von etwas Liebgewonnenem oder Notwendigen trennen, um so einen Menschen in Not zu unterstützen fällt uns schwer. Damit meine ich nicht die Spende hier oder das Kleingeld für den Klingelbeutel dort und auch nicht die abgetragenen Klamotten, die in der Altkleidersammlung landen. Klar: Das hilft alles und ist besser als nichts. Aber was Jesus von dem Reichen verlangte, der mit seinem ganzen Vermögen nicht ansatzweise durch das Nadelöhr passte, ist mehr als das. Er erwartet ein richtiges Opfer von uns. Eine Art persönlichen Offenbarungseid. Aber alles verschenken, um dann selbst Unterstützung zu benötigen? Das kann doch keine Lösung sein – und war auch nicht die Absicht Jesu. Der – das wissen wir aus anderen Zusammenhängen – war nämlich eigentlich ein richtiger Provokateur. Einer, der radikale und absolut unerfüllbare Forderungen stellte, um uns Menschen zum Nachdenken, zum Überdenken der eigenen Handlungsoptionen zu bringen. Teilen, jenseits unserer Komfortzone. Nicht nur das abgeben, was man gut und gern entbehren kann, sondern zum einen die wirklichen Bedürfnisse des anderen erkennen, zum anderen schrankenloser zu denken, als wir das in unserem bequemen Alltag gewohnt sind. Das gilt übrigens nicht nur für materielle Güter. Liebe, Zuwendung, Zeit, mentale und emotionale Unterstützung – es gibt unendlich viele Bereiche, in denen wir, was unsere Support-Möglichkeiten betrifft, bei genauem Nachdenken noch ordentlich Luft nach oben haben. Nehmen wir doch einfach viel öfter eine Laterne in die Hand, statt möglichst unauffällig unter dem nächstbesten Scheffel abzutauchen. Zeigen wir Flagge und die Bereitschaft zu helfen, auch jenseits unserer persönlichen Komfortzone. Dann sind wir auf einem guten Weg durch das enge Nadelöhr. Der heilige Martin ist da mit seinem halbierten Mantel im Übrigen bestimmt bestens durchgerutscht.