November 2025
Mit dem Wind ...  
… in den Sonnenaufgang geradelt. Dank der Zeitumstellung Ende Oktober, ist das in den ersten beiden Novemberwochen wieder möglich. Also natürlich nur, wenn die Sonne tatsächlich auch zu sehen ist und nicht dicke Regenwolken die Wetterregie übernommen haben. Aber an diesem Morgen waren die Felder mit einer dünnen Schicht Raureif überzogen, der Atem quoll in dicken Wolken unter meinem wärmenden Mundschutz hervor und der Horizont erstrahlte in einem herrlichen Rot. Kein Auto, das die Ruhe störte, und bis auf ein paar Rehe, die versuchten, unter der Reifschicht das ein oder andere Gräschen aufzustöbern, kein Lebewesen weit und breit.
Ich hielt an, um für einen Augenblick diesen Moment der Ruhe, der fast greifbaren Stille, auf mich wirken zu lassen. Das Smartphone zücken und ein Foto machen? Ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Stattdessen sog ich die Stimmung gierig auf. Wie ein Staubsauger die Flusen unter einem Sofa. Und als mein Beutel voll war – um im Bild zu bleiben – schwang ich mich erneut in den Sattel.
Beim Weiterradeln horchte ich dann aber in mich hinein. Da wollte doch etwas raus. Ein Gedanke drängte an die Bewusstseinsoberfläche. Ein Gedanke? Nein: eine Erinnerung! Vor vielen Jahren, als ich noch in Hennigsdorf wohnte und meine Arbeitsstelle in der Berliner Innenstadt lag, gab es einen ähnlichen Moment. Nicht etwa im Wald oder an den Havelauen auf dem Radweg in Richtung Spandau, sondern mitten in einem Berliner Industriegebiet.
Ich erinnere mich noch genau an den beeindruckenden Anblick der mächtigen Schwerindustrie in Berlin-Ruhleben. Insider kennen sicher die Ecke zwischen Kraftwerk, Müllverbrennungsanlage und IKEA. In der aufgehenden Sonne eines kalten Novembermorgens spiegelte sich das Rot in den riesigen Metallkomplexen, quollen monströse Rauchwolken in den Himmel, war die Luft erfüllt vom Industrielärm, der zusammen mit dem monotonen Brummen des morgendlichen Berufsverkehrs ein einzigartiges Konzert gab. Warum ich angehalten habe? Ganz einfach: Über einen unbeschrankten Bahnübergang schob sich im Schneckentempo ein Güterzug und zwang den Verkehr – und damit auch mich – für einen Moment innezuhalten.
Zwei Momente, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Und beide einzigartig. Hier die kontemplative Stille der fast unberührten Natur und dort die bizarre Schönheit von Technik und Verkehr im intensiven Zusammenspiel. Wenn Sie mich jetzt fragen würden, welches der schönere Moment war – ich müsste Ihnen die Antwort schuldig bleiben. Und während ich hier an meinem Schreibtisch darüber nachdenke stelle ich fest, dass es in meinem Leben unzählige solcher besonderen und doch völlig unterschiedlichen – ja mitunter sogar gegensätzlichen – Momente gab.
Vielleicht liegt die Kunst darin, im Hier und Jetzt zu leben. Sich nicht ständig an Orte zu wünschen, an denen alles doch so viel schöner, harmonischer, ja paradiesischer scheint. Stattdessen sollten wir mit wachem Blick, einem offenen Herzen sowie der Bereitschaft, das Schöne, die Einzigartigkeit all dessen, was uns umgibt, wahrzunehmen, durchs Leben gehen. Voraussetzungen für so etwas wie „Alltagsglück“, die wohl fast jeder von uns mitbringt.
Und wenn das Selbstmitleid über das eigene Schicksal mal wieder die Oberhand gewinnt? Dann hilft vielleicht ein Blick auf das Leben der Menschen in den Kriegs- und Krisengebieten unserer Erde. Diese Menschen haben alles Recht der Welt, sich wegzuwünschen oder von einer besseren, sicheren, schöneren Zukunft zu träumen. Aber wir? Wir sollten das betrachten, was wir haben. Es ist so viel. Wir müssen nur lernen, es wahr- und anzunehmen.
Und wenn dann doch mal ein richtig mieser Tag um die Ecke kommt? Kann ja sein. Das Leben besteht nicht nur aus eitel Sonnenschein. Dann müssen wir uns nur kurz in Erinnerung rufen, dass am Ende das Paradies wartet. Da ist dann wirklich alles gut. Und mit diesem Wissen halten wir doch so ein bisschen irdisches Jammertal aus. Also: Weniger jammern und mehr genießen! Auch, wenn das im November – zumindest was die Witterung betrifft – nicht immer leichtfällt.