Unterwegs mit dem Wind
von Wolgast auf den Högakull

Mit dem Wind - Sammlung der Beiträge aus den zurückliegenden Monaten 

       

Mit dem Wind ... 

… aus gegebenem Anlass über uns Meckerköppe nachgedacht. Also Sie und mich und die ungefähr 8 Milliarden weiteren auf unserer Erde. Na gut: Es mag ein paar Grundgütige geben, aber die fallen bei der Masse der anderen nun wirklich nicht ins Gewicht.
Aber jetzt mal von Anfang an: Ich war mit dem Rad unterwegs und auf der Suche nach einem Motiv für das Cover meines neuen Wolgast-Krimis. Ein paar Stellnetze im Achterwasser sollten es sein. Inzwischen eine Rarität. Wer fischt denn heute noch im Achterwasser? Also außer den Kormoranen und den Anglern auf der Amazonenbrücke in Wolgast.
Bereits im Frühjahr hatte ich einen der wenigen verbliebenen Stellplätze ausgespäht. Zwischen Neuendorf und Krummin entdeckte ich nämlich tatsächlich noch ein paar ufernahe Netze, die sich, auch ohne nasse Füße zu bekommen, fotografieren lassen würden. Jetzt, im September, mit dem spätsommerlich blauen Himmel über mir, ein paar entspannt dahinsegelnden Möwen und mit etwas Glück einem Segelboot am Horizont: Das musste ganz einfach ein perfektes Bild werden!
Voller Vorfreude nahm ich den holprigen Plattenweg unter meine schmalen Rennradreifen – normalerweise meide ich solche Pfade wie die Pest – und wurde nicht enttäuscht. Das Schilf am Ufersaum leuchtete in einem satten Grün. Auf den Stangen, an denen die Netze befestigt waren, ruhte ein Graureiher in trauter Eintracht mit einigen Seeschwalben, und die strahlende Spätsommer-Sonne verlieh der pittoresken Szenerie einen goldenen Glanz. Einfach grandios! – Wäre da nur diese Absperrung nicht im Weg gewesen. Der Fischer, oder wer auch immer, hatte ein Tau vor den Zugang zum Uferbereich gespannt. Kein wirkliches Hindernis, aber als bravem Deutschen war mir sofort klar: Durchgang verboten! Hier darfst du nicht weitergehen! Der Grund für die Absperrung erschloss sich mir nicht. Ein Wespennest oder andere mögliche Gefährdungen, die eine Absperrung notwendig gemacht hätten, konnte ich nicht entdecken. Außerdem zog sich durch das Gras – gut zu erkennen –  ein Trampelpfad …
Ich sah mich um. Niemand zu sehen, den man um Erlaubnis fragen konnte. So ein Mist! Meine Regel- und Gesetzestreue focht einen minutenlangen Kampf mit dem Verlangen aus, dieses einmalige Motiv abzulichten. Sie zog – Sie ahnen es – dann doch den Kürzeren. Die Verlockung war einfach zu groß.
Mit ziemlich schlechtem Gewissen stieg ich über das Tau, setzte zaghaft einen Fuß vor den anderen – und vernahm im gleichen Augenblick ein Motorengeräusch. Ein steinalter Kastenwagen näherte sich. Und während mein schlechtes Gewissen die Oberhand gewann, ich meine Fotopirsch abbrach und versuchte im Galopp die Sperrzone zu verlassen, stoppte der PKW. Die Seitenscheibe wurde heruntergelassen und sofort begann mich der Fahrer, im Übrigen ein steinalter Kauz, nach Strich und Faden zu maßregeln. (Ein anderes Wort, das den Redefluss des eskalierenden Seniors treffender beschreiben würde, erspare ich Ihnen …).
Trotzdem stapfte ich mutig der Schimpftirade des offensichtlichen Eigentümers entgegen. Ich hatte die Hoffnung, mich für mein unerlaubtes Eindringen entschuldigen zu können und gleichzeitig die Gelegenheit zu erhalten, mein Anliegen schildern zu dürfen. Aber Pustekuchen. Mit einer letzten wüsten Drohung, die die Begriffe Hund und Polizei enthielt, rumpelte der Kerl in seinem Oldtimer von hinnen, bevor ich überhaupt zu Wort gekommen war. Umdrehen und trotzdem ein Foto machen? Ging nicht mehr. Da war der Schatten zu groß, über den ich hätte springen müssen.
Missmutig stieg ich auf mein Rad und holperte in Richtung Krummin. Warum hatte der mir denn nicht zugehört? Ich hätte ihm doch alles erklären können. Aber, das sah ich dann schnell ein, der wollte überhaupt keine Erklärung. Erst recht nicht von so einem bunten Vogel mit Helm und Fahrradschuhen. Und außerdem war er ja auch völlig im Recht. Seine Wiese, seine Absperrung und ich ein unbefugter Eindringling.
Trotzdem hielt der Ärger bei mir an. Warum müssen die Menschen immer gleich meckern und motzen, statt erst einmal zuzuhören? Klar, macht es deutlich mehr Mühe, die Argumente des anderen anzuhören, um möglicherweise sogar dessen Denkansatz zu verstehen. Kostet Zeit, Nerven und Hirnschmalz. Niedermotzen oder –meckern und Ruhe ist! So einfach ist die Sache. Aber hätte der Wüterich im Auto mir eine Sekunde zugehört und dann mein Anliegen abgelehnt – ich wäre zwar etwas betrübt aber längst nicht so verärgert nach Hause gefahren. Seine Wiese, seine Entscheidung. Die hätte ich selbstredend respektiert.
Während ich hier sitze und diese kleine Geschichte für Sie aufschreibe, fällt mir eine Szene aus dem Neuen Testament ein. Ich denke an die Tempelreinigung, die in allen vier Evangelien beschrieben wird. Ein wütender Jesus stößt die Verkaufstische der Händler um und zerstört deren Auslagen.
„Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus“, wird er bei Johannes zitiert. Auf Diskussionen mit den Händlern lässt er sich gar nicht erst ein. Dass die mit dem Verkaufserlös ihre Familien ernähren müssen, gegebenenfalls nur angestellt sind und die zerstörten Tische und verdorbenen Waren aus eigener Tasche ersetzen müssen, interessiert Jesus nicht die Bohne. Er wütet, tobt –  und ist natürlich im Recht.
Wahrer Mensch und wahrer Gott. In diesem Moment – so meine Interpretation – hat wohl der wahre Mensch in Jesus gesiegt. Da war Jesus mal so ein richtiger Meckerkopp.
Und wir? Wir haben die Chance, es tatsächlich an einer Stelle mal besser zu machen als unser biblisches Vorbild an dessen Ansprüchen bezüglich Lebensführung und Umgang mit unseren Mitmenschen wir so oft scheitern. Das ist doch mal ein Anreiz! Nicht wahr?

Mit dem Wind ...

... die falsche Entscheidung getroffen. Mal wieder! Gestern, als ich durch einen herrlichen Spätsommermorgen zur Arbeit geradelt bin, hatte ich mir vorgenommen, heute besonders früh aufzustehen und unterwegs am Achterwasser das ein oder andere Foto zu schießen, mich an einem der kleinen Häfen auf einen Steg zu setzen und der Sonne bei Aufgehen zuzuschauen.
Aber Pustekuchen. Statt Sonne gab es Wolken satt. Dazu noch einen kühlen Wind aus Südost, obwohl der Wetterfrosch im Fernsehen etwas ganz anderes versprochen hatte. Frieren statt genießen war angesagt. Zu allem Überfluss lag da noch ein Haufen abgetragener Klamotten auf den Steg, die wohl irgendwer dort entsorgt hatte. Idylle am Achterwasser? War gestern! Wäre ich nur in meinem Bett geblieben.
Falsche Entscheidungen treffen wir regelmäßig. Oder treffen sie etwa uns? Keine Ahnung, wie das mit den Entscheidungen so im Allgemeinen und im Besonderen ist. Ich weiß nur, dass mir ohne langes Nachdenken zahlreiche Beispiele für suboptimale Entscheidungen meinerseits einfallen. Erst vorgestern stand ich zum Beispiel am Ende einer langen Kassenschlange und stellte mich angesichts der vollen Einkaufskörbe meiner Mitsteher auf mindestens 15 Minuten Wartezeit ein. Mindestens! Da ertönte – erhofft, aber nicht erwartet – ein wohlbekannter Gong, und die verheißungsvolle Durchsage: „Gleich wird Kasse 2 für Sie geöffnet!“, ließ mich zum entsprechenden Förderband eilen.
Natürlich war ich nicht der Einzige, der die Durchsage vernommen hatte. Und nicht der Schnellste. Brav reihte ich mich an Position 4 ein. Immerhin war ich damit geschätzte 10 Plätze vorgerückt. Allerdings dauerte es doch ziemlich lange, bis sich ein junger Mann der Kasse näherte, etwas unsicher die Absperrung öffnete und umständlich hinter dem Förderband Platz nahm.
Was war denn mit dem Typen los? Der schlief ja bei der Arbeit fast ein! Erst eine Kundin hatte der Jüngling abgefertigt. Und das in einem Schneckentempo, während es an der anderen Kasse flott voran ging. Ich war mir inzwischen gar nicht mehr sicher, ob der Kassenschlangenwechsel die richtige Entscheidung war.
In diesem Moment ertönte eine weitere Durchsage: „Filialleitung zu Kasse 2, bitte!“ Der Supergau beim Kassenstau, wie alle Supermarktkunden wissen! Ich hätte mich in den Hintern beißen können. Wäre ich bloß in meiner Schlange stehengeblieben! Vielleicht noch einmal wechseln? Ein Blick nach hinten. Auf die Idee waren die anderen allerdings auch schon gekommen. Hinter mir stand keiner mehr an. Dafür hatte die andere Kassenschlange ihre ursprüngliche Länge wieder erreicht. Da half nur eines: Den Schalter von Tempo auf Tiefenentspannung umlegen und statt verzweifelt auf die digitale Uhrzeit des Kassenmonitors zu starren, dem jungen Mann bei der Arbeit zuschauen.
Machte der eigentlich schon ganz gut, der Jungspund. Das Schildchen mit der Aufschrift “Ich bin neu“ an seinem Kittel lieferte dazu noch die Erklärung für seine noch nicht ganz so optimale Performance. Aber dem Kunden in die Augen schauen, ihn trotz Stress freundlich zu begrüßen und nach erfolgter Zahlung mit einem weiteren Gruß zu verabschieden, das hatte er schon gelernt. Alle Achtung!
Eigentlich, dachte ich auf dem Nachhauseweg, war die Entscheidung für den jungen Mann doch gar nicht so schlecht. So freundlich war ich, wenn ich ehrlich bin, schon lange nicht mehr bedient worden. Und vielleicht kommt es mitunter einfach nur auf die Kriterien an, nach denen wir Situationen beurteilen. Ändern wir unsere Erwartungshaltung, dann ändert sich nämlich oft auch die Situation.
Wenn wir zum Beispiel Jesus nehmen. Dem wurde vor 2000 Jahren auch regelmäßig mit einer Erwartungshaltung begegnet, die er weder erfüllen konnte noch wollte. Mit Feuer und Schwert die Römer vertreiben. Sich als König der Israeliten auf den Thron setzen. Die Feinde Israels vernichten, wie einst Gott die Ägypter im Roten Meer. Alles so überhaupt nicht die Sache Jesu.
Es dauerte lange, bis die Menschen – zunächst vielleicht sogar nur seine Jünger – verstanden hatten, dass sie ihre Erwartungshaltung, ihren Blickwinkel auf diesen merkwürdigen Propheten ändern mussten, um zu verstehen, wer Jesus wirklich war und was er wollte.
Den Blickwinkel auf Situationen und Personen ändern. Unsere Erwartungshaltung überdenken und gegebenenfalls anpassen. Das ist kein Zeichen von Schwäche oder Nachlässigkeit, sondern eröffnet uns ganz neue Perspektiven, die wir sonst verpasst, übersehen oder einfach ignoriert hätten.
Noch mal zurück ans Achterwasser. Als ich missmutig gerade wieder auf mein Rad steigen wollte, prustete es neben dem Steg. Ein verirrtes Walross? Ich wartete gespannt. Im nächsten Augenblick erklomm sie die kleine Badeleiter. Nein, keine Meerjungfrau, sondern eine ältere Dame, die sich schüttelte wie ein nasser Hund und zu dem ominösen Kleiderberg stapfte. „Herrlich! Nicht wahr, junger Mann? Bei dem Wetter hat man das Achterwasser fast für sich.“ Sie strahlte. „Käffchen? Ich hab zwei Tassen mit!“ Dann zog sie eine Thermoskanne und zwei emaillierte Henkelpötte unter dem Kleiderberg hervor, wickelte sich in einen Morgenmantel und setzte sich auf den Steg.
Ich grinste. Als jungen Mann hatte mich mit meinen 57 Lenzen auch schon lange niemand mehr bezeichnet. Und der Kaffee? Der schmeckte auch, ohne sich vorher Durst im Achterwasser angeschwommen zu haben.

Mit dem Wind ...

... über die Düne zum „Otto-Strand“ gepilgert und mich umgeschaut. War ganz schön voll, an diesem warmen Sommertag. Gleich neben unserem Strandschild bauten zwei Zwerge unter Aufsicht ihrer Großeltern an einer Sandburg. Genaugenommen handelte es sich bei dem Bauwerk um einen Sandhügel von bereits recht imposanter Höhe. Die beiden schippten mit Feuereifer. „Wir bauen bis zum Himmel!“, rief der eine, während er die nächste Schippe mit
trockenem Strandsand auf den Hügel feuerte. Also eigentlich nur die halbe. Die andere Hälfteregnete als feinkörniger Fallout auf das betagte Aufsichtspersonal nieder.
„Nu lass mal die Kirche im Dorf“, brummte der Opa und schüttelte zum wiederholten Mal den Sand aus seiner Illustrierten, während Oma versuchte, die beiden Baumeister mit einem bereits leicht angeschmolzenen Schokoriegel von ihrer Arbeit abzulenken. Begeisterung über den Tatendrang der Enkel sah anders aus. Und so ganz altersgerecht war der Opa-Spruch auch nicht.
Zu Hause habe ich dann mal nachgeschaut, worauf sich die Redensart „Die Kirche im Dorf lassen“eigentlich bezieht. Dank Google reichte ein Tastendruck, und nach der Lektüre mehrerer Artikel war ich tatsächlich schlauer. Früher – wie mancherorts auch noch heute – zogen die Prozessionen der katholischen Kirche durch das Dorf. Die Fronleichnamsprozession mit dem Allerheiligsten, die Palmprozession am Palmsonntag sowie Segensprozessionen und Flurprozessionen, bei denen Fahrzeuge oder bestimmte Orte mit Weihwasser besprengt wurden. Aber auch zum Kirchweihfest oder anderen Anlässen zeigte die Kirche Präsenz in Form von prachtvollen Aufmärschen quer durch den Kiez. Allerdings waren die meisten Dörfer recht klein. Außerdem kamen zu solchen Festen auch immer viele Menschen von den Bauernhöfen der näheren Umgebung ins Dorf. Manchmal waren die Menschen gar so zahlreich und die Dörfer wiederum so winzig, dass den Kirchenoberen der Weg durchs Dorf zu kurz erschien. Wenn schon, denn schon, dachten sie und so zog die Prozession am Ortsrand einfach weiter und um das Dorf herum. Ja manchmal sogar über die Wiesen und Felder. Das fanden dann bescheidenere Zeitgenossen allerdings ziemlich übertrieben. Sie mahnten, nicht so zu übertreiben und vom eitlen und prahlerischen Prunk- und Protzgehabe Abstand zu nehmen – kurzum „die Kirche im
Dorf zu lassen“.
Zu viele Teilnehmer an einer Prozession? Ein Übermaß an Prunk und Pracht bei der Fronleichnamsprozession? Unvorstellbar heute! Zumindest in unseren Breitengraden. Aber die Redensart hat überlebt.
Die Kirche im Dorf lassen. Aus meiner heutigen Sicht ist das eigentlich gar keine so gute Idee. Wenn wir paar versprengten Christen uns klein machen, verstecken und nur unter uns kungeln, dann sind wir doch ein ziemlich trauriges Häuflein in unserer Dorfkirche. Viel lieber sollten wir hinausgehen und Flagge zeigen. Nicht prahlerisch oder als Besser-Menschen, sondern bescheiden. Aber mit einem klaren Bekenntnis zu unseren christlichen Werten: Nächstenliebe, Toleranz, Wahrhaftigkeit aber auch Hilfsbereitschaft, Weltoffenheit und Großmut. Das moralische Fundament unseres Glaubens ist in vieler Hinsicht aktueller denn je. Damit müssen wir uns nun wahrlich nicht in unserem Dorf, in unserer Kirche oder gar den eigenen vier Wänden verkriechen.
Und der Burgenbau am Otto-Strand? Der endete fast babylonisch. Ein monströser Köter vom angrenzenden Hundestrand verspürte offenbar große Lust, an der Gestaltung des Bauwerks mitzuwirken. Sein nicht ganz fachmännischer aber dafür umso tatkräftigerer Pfoteneinsatz bewirkte allerdings das Gegenteil ...
Wie gut, dass Oma die Tröste-Riegel am Start hatte. Angeschmolzen hin oder her. So konnten sich die zwei Baumeister, nach einem kurzen Moment der Trauer, über den wild buddelnden Vierbeiner amüsieren, während Opa, resignierend ob der auf ihn niederprasselnden Sandfontäne, seine Zeitschrift endgültig wegpackte.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen wunderbaren Sommer!

 

Mit dem Wind ...

... bin ich in den frühen Morgenstunden an einem Hochsitz vorbeikommen. Wie fast jeden Morgen. Der steht auf einem Feld, direkt an der wunderschönen Lindenallee, die nach Krummin führt. Einen Jäger habe ich auf diesem hölzernen Waidmannsausguck allerdings noch nie gesehen. Wahrscheinlich beginnt meine Arbeit doch nicht ganz so früh, wie ich persönlich das empfinde, wenn der Wecker morgens um 6 Uhr klingelt. Der Jäger, so meine Vermutung, ist – wenn er denn überhaupt da war – schon längst wieder zu Hause, bis ich schließlich gegen 7 Uhr an seinem Teilzeitarbeitsplatz vorbeiradle.
Heute Morgen allerdings war der Hochsitz tatsächlich besetzt. Ein geflügelter Jäger, ein Greifvogel, spähte von der Brüstung. Nach einem Rehbock hielt der wohl nicht Ausschau. Aber so ein zartes Mäuschen zum Frühstück? Leckerschmecker!
Schichtwechsel, dachte ich nur. Ein Jäger löst den anderen ab. Fast wie im Krankenhaus. Die Nachtschicht übergibt an die Frühschicht. Wobei: Auf Station konzentriert sich das Interesse der Pflegenden wohl eher auf das Überleben als auf das Ableben oder Erlegen ihrer Patientinnen und Patienten.
Schichtwechsel in ganz unterschiedlichen Formen bestimmen viele Bereiche unsers Lebens. Neben den zeitintensiven Übergaben, wie etwa auf der Intensivstation einer Klinik, gibt es auch Wechsel, die deutlich zügiger vonstattengehen. Beispielsweise der Kassenwechsel im Supermarkt. Stellen Sie sich mal eine Kassiererin vor, die – während die Kundenschlange lang und länger wird – dem ablösenden Kollegen ausführlich erzählt, welche Euronen aus den unterschiedlichen europäischen Ländern während ihrer Schicht in der Kasse gelandet sind. Ein veritabler Shitstorm von Seiten der Kassenschlangensteher wäre wahrscheinlich ihr kleinstes Problem. Aber auch in anderen Bereichen kann und muss der Schichtwechsel zügig und ohne längeren Austausch erfolgen.
Manchmal ist eine Begegnung beim Schichtwechsel auch gar nicht zwingend vorgesehen. Im modernen Großraumbüro oder Co-Working-Space wird vorausgesetzt, dass der Schreibtisch vom Vorgänger vollständig beräumt wurde, damit man zügig mit der eigenen Arbeit beginnen kann. Vielleicht noch ein schneller Gruß, ein „Frohes Schaffen!“ und weiter geht’s.
Ja und schließlich gibt es noch die – zum Glück – vollkommen kontaktfreien, ja anonymen Schichtwechsel. Da wären beispielsweise der Sitzplatz in der Bahn, der Tisch im Restaurant oder auch das Hotelzimmer zu nennen. Nur mal angenommen, Sie betreten die gebuchte Ferienwohnung und treffen dort auf ihre Vorgänger. „Das Bett ist etwas zu weich, die Decke außerdem viel zu warm und dadurch schwitzt man ordentlich. Aber dafür kann ich Ihnen die Regenwalddusche empfehlen! Und passen Sie mit dem Schlafzimmerfenster auf. Das hängt nur noch lose in der Angel! Die Wurst im Kühlschrank können sie übrigens noch verwenden, auch wenn das Verfallsdatum schon überschritten ist.“ Hilfreich? Also ich fände das eher gruselig.
Da stelle ich mir doch lieber vor, wie so eine Übergabe auf dem Hochsitz ablaufen könnte. Also zwischen Jäger und Greifvogel. Bestimmt ohne viele Worte. „Waidmannsheil!“ – „Waidmannsdank … krächz!“ oder auch „Gutes Mausen!“ Und fertig.
Während ich dann, etwas später am Tag, die Opferkerzen im Vorraum unserer Kirche auffülle und dabei einen Blick auf Jesus am Kreuz werfe frage ich mich, ob es da eigentlich auch so eine Art Schichtwechsel gibt. Also zwischen Gott, Jesus und dem Heiligen Geist. Zwei haben Pause, während einer über die Welt wacht? Oder hat von den Dreien jeder sein eigenes Ressort und die machen einfach durch? Vielleicht eine wöchentliche Dienstbesprechung, aber den Rest der Woche dreieinige Einzelkämpfer?
Ja und erst die Engel? Wie sieht es denn bei denen aus? Gerade mein Schutzengel zum Beispiel ist wirklich ‘ne arme Socke, wenn er den Job 24/7 erledigen muss. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was möglicherweise passiert, wenn der einfach mal aufgrund von Dauerstress und Überlastung einpennt, fünfe gerade sein lässt oder für bessere Arbeitsbedingungen streikt! Da können schon mal Zweifel aufkommen, ob der liebe Gott seinen Laden eigentlich so richtig im Griff hat.
Aber, während ich die letzten Kerzen aus der Verpackung nehme, siegt doch mein Vertrauen in die göttliche Weisheit und Kompetenz. Die werden “da oben“ schon wissen, was sie tun. Hoffentlich!

Mit dem Wind ...

... auf die Suche nach Entspannung gemacht. Das klappt in der Regel ganz hervorragen, wenn ich morgens, kurz nach Sonnenaufgang, den Radweg zwischen Sauzin und Neeberg nehme. Nichts los da. Außer dem gelegentlichen Zwitschern der Vögel, einigen versprengten Rehen, die sich nicht beim Äsen stören lassen und ein paar Kühen, die scheinbar ebenfalls zu den Frühaufstehern beziehungsweise Früh-Stückern im Tierreich gehören.
Herrlich ruhig ist es. Eigentlich sollte ich anhalten und einfach nur genießen. Aber da wartet ja die Arbeit. Also trete ich – allerdings bewusst langsam – weiter in die Pedale, um diesen friedlichen Moment der vollkommenen Entspannung so lange wie möglich zu genießen.
„Runde 1! 13 Minuten und 35 Sekunden. Dein Tempo ist zu langsam!“, schimpft urplötzlich eine markante Frauenstimme in mein linkes Ohr. Erschreckt verreiße ich den Lenker und kann einen Sturz nur mit größter Mühe vermeiden. Ein Blick über die Schulter: Da ist niemand! Weder fläzt sich eine Dame auf meinem Gepäckträger, noch sitzt ein sprechender Vogel auf meiner Schulter, der mir direkt in die Ohrmuschel quäkt.
Dann fällt der Groschen. Der Tacho am Lenker ist mit meinem Smartphone gekoppelt, und das liegt zuoberst in meinem Rucksack. Also quasi direkt neben meinem Ohr. Der Tacho misst die Rundenzeit, übermittelt den Wert geräuschlos an die Dame in meinem Handy und die kann natürlich ihre Klappe nicht halten.
Normalerweise stelle ich den Ton des Smartphones unterwegs aus. Das muss ich wohl vergessen haben, und so konnte mich meine gnadenlose virtuelle „Fitnesstrainerin“ aus meinen Träumen reißen. Vorbei war es mit der Entspannung. So ein Mist! Und auch noch selbst Schuld. Darüber tröstete auch nicht der Kommentar nach Runde 2 – „11 Minuten und 55 Sekunden. Dein Tempo ist optimal!“ – hinweg. Mein Tempo war mir gerade mal sowas von egal!
Geht es Ihnen nicht auch oft so? Sie haben sich in ein Buch vertieft, und das Telefon klingelt. Sie sitzen am Strand, schauen aufs Meer, und das Smartphone vermeldet eine eingehende Nachricht. Sie schreiben konzentriert an einer Kolumne, wie ich gerade, und ein lieber Freund klopft unangemeldet an die Tür. Oder auch das sicher allen wohlbekannte Szenarium auf der heimischen TV-Couch: Sie genießen gerade die Stimmung beim Herzkino, sind auf dem Traumschiff unterwegs oder befinden sich, zusammen mit dem ermittelnden Kommissar, in der finalen Aufklärungssequenz eines komplizierten Falles und werden urplötzlich durch eine der folgenden Fragen aus allen Träumen und Überlegungen gerissen: „Wie heißt denn noch mal die Schauspielerin? Ich komm gerade nicht auf den Namen.“ „Die Chips sind alle. Holst du noch welche?“ „Was kochen wir eigentlich morgen?“ „Bin gerade eingenickt: Kannst du kurz zusammenfassen?“ Oder auch die beliebteste aller Störfragen. „Hä?! Ich komm da nicht mit!“
Es scheint manchmal, als würden uns die Mitmenschen – nein, die ganze Welt – einfach genau dann stören, unterbrechen, ablenken und beanspruchen, wenn es uns tatsächlich einmal gelingt, für einen Moment aus der korsettartigen Taktung unseres Tagesablaufs auszubrechen. Träumen verboten!
Aber Schuld sind nicht nur die anderen. Ich würde sogar behaupten, dass wir weit mehr als der Hälfte dieser „Störungen“ selbst verantworten. So wie ich. Mit der Stimme in meinem Ohr.
Das allgegenwärtige Smartphone mal für ein paar Stunden komplett auszuschalten scheint uns unmöglich. Ton aus? Ok! Aber die optische Anzeige eingehender Nachrichten muss anbleiben. Könnte ja was Wichtiges dabei sein. Und das Ding auf einer Radtour oder Wanderung einfach ganz zu Hause lassen? Undenkbar! Wie soll ich denn fotografieren? Und was mache ich bei einer Panne?!
Ganz einfach, würde ich da antworten: Flickzeug mitnehmen! Und, anstatt die schönsten Momente der Tour für Familie, Freunde und Bekannte im Bild festzuhalten ist es auch erlaubt und darüber hinaus sehr entspannend all die wundervollen Bilder und Fotomotive, die uns die Natur nicht nur auf Usedom schenkt, auch einfach mal nur zu genießen, ohne permanent deren Zweitverwertung im Hinterkopf zu haben.
Bleibt noch das Problem mit den Fernsehunterbrechungen, die schon so manche Beziehung ordentlich zerrüttet haben. Dafür hätte ich eine ganz wunderbare Empfehlung aus Schweden. Der Renner dort ist das Format: „Die Wanderung der Elche“. Ein Livestream. Die Schweden haben einige Kameras an einem Fluss installiert. Also nicht irgendwo, sondern genau dort, wo zuverlässig irgendwann im Frühling nach und nach Elche auf ihrer Wanderung von der Küste ins Binnenland vorbeischlendern. Wenn sie es sich nicht anders überlegen. Und so viele Elche sind es natürlich auch nicht. Im letzten Jahr ganze 26. Das kann also dauern, bis mal wieder einer vorbeischaut. Stunden, Tage, Wochen. Vielleicht auch erst im nächsten Jahr.
Aber in der Zwischenzeit fließt der Fluss, kreuzt überraschend mal ein Fuchs das Blickfeld und die Vögel zwitschern. Entspannung pur. Wie früher, als die Skilangläufer die olympischen 50km noch nicht auf einem Rundkurs absolvierten. Manchmal dauerte es 20 Minuten bis sich einer der Athleten, mit Eiszapfen am Bart, schnaufend, rotzend und schniefend der Kamera näherte, um anschließend wie ein Phantom wieder im Wald zu verschwinden.
Die Gefahr, beim Chipsholen einen Elch zu verpassen, ist übrigens aufgrund der geschilderten Umstände eher gering. Sollte aber tatsächlich genau in diesem Augenblick einer ins Bild kommen kann ich Sie trösten: Elche sind keine Sprinter …
Aber was ist mit den störenden Zwischenfragen unaufmerksamer Mit-Seher? Die, das verspreche ich Ihnen, werden sich in Grenzen halten. Was wollen die denn fragen? Passiert ja nix – im Fernsehen.
Zum Schluss noch ein Premium-Tipp, wenn Sie nach einem Ort für Kontemplation und Entspannung suchen: Jeden Mittwoch ab 17 Uhr ist in St. Otto-Zinnowitz Anbetungsstunde.
Noch nicht still genug? Zu viel Ablenkung durch Mitbetende? Na dann buchen Sie sich doch einfach einen Aufenthalt bei uns! Unseren Gästen steht die Kapelle nämlich rund um die Uhr zur Verfügung. Und ich versichere Ihnen: Morgens um 3 Uhr stört niemand Ihr leises oder auch lautes Zwiegespräch mit dem lieben Gott. Vorausgesetzt, Sie haben ihr Smartphone nicht dabei. Denn Nachrichten, dass wissen Sie so gut wie ich, ploppen zu jeder Tages- und Nachtzeit auf.


Mit dem Wind ...

... aus dem Rahmen gefallen. Also nicht ich – ausnahmsweise. Bei einem Stadtbummel durch Greifswald fiel es mir – wie wahrscheinlich den meisten Passanten – sofort ins Auge: Das Fenster, das da offensichtlich mit voller Absicht im zweiten Stock eines frisch renovierten Wohnhauses schief eingebaut worden war. Nicht nur ein bisschen aus dem Lot, sondern so richtig schief, zerstörte es die Symmetrie einer absolut waagerechten Reihe von vier weiteren Fenstern auf derselben Etage. Natürlich blieb ich vor dem Haus stehen und machte mir so meine Gedanken. Schön oder nicht so schön? Schnapsidee, Design oder pure Provokation? Und: Wie regeln die das wohl mit den Blumentöpfen auf dem Fensterbrett?
Gut konnte ich mir die unterschiedlichsten Kommentare vorstellen. Denn eine Meinungsäußerung fordert diese besondere Form der Architektur zweifellos heraus. „Muss der so aus der Reihe tanzen?!“ „Sieht voll bescheuert aus!“ „Cool!“ „Mit Wasserwaage wäre das nicht passiert!“ „Die Welt wird immer verrückter!“ „Das kommt davon, wenn man sparen will und keine deutschen Handwerker beschäftigt!“ „Wieder eine Bausünde mehr! Dass da das Bauamt nicht einschreitet?“
Aus dem Rahmen fallen, aus der Reihe tanzen oder einfach von der Norm abweichen. Es fällt uns oft schwer, das zu akzeptieren. Vor allem, wenn es dabei um unsere Mitmenschen geht. Kleidung, Musikgeschmack aber vor allem auch Ansichten, Verhaltensweisen und Lebensmodelle: Wer von der gesellschaftlichen Norm abweicht, nicht den vorgegebenen und allgemein akzeptierten Verhaltensmustern entspricht oder sich über bestehende Konventionen hinwegsetzt wird ganz schnell zum Außenseiter … gemacht!
Klar sind wir alle seeeehr tolerant. Aber was zu weit geht, geht zu weit! Und man muss doch auch nicht jeden Blödsinn ertragen! Manchmal, das gebe ich zu, sind das auch meine Gedanken. Dabei kann es mir persönlich doch völlig egal sein, wer wie viele Tattoos, Nasenringe oder sonstigen, für mich konservativen alten Knacker höchst exotischen Körperschmuck trägt. Es geht mich auch nichts an, wer sich wie ernährt, für welche Lebensgemeinschaftsmodelle sich meine Mitmenschen entscheiden, wie sie ihren Urlaub und ihre Freizeit verbringen. Und auch, ob sie ihren Vorgarten pflegen oder verrotten lassen kann mir schnurzpiepe sein.
Gleichgültigkeit gegenüber Andersdenkenden oder –lebenden kann aber nur ein erster Schritt sein, auf den weitere, nämlich Toleranz und Akzeptanz, folgen müssen.
Leben und leben lassen! Vielleicht ist genau das die Absicht des Bauherrn gewesen, der die Greifswalder Innenstadt mit seinem schiefen Fenster um eine skurrile Note bereichert hat.
Die Frage ist in meinen Augen berechtigt, wie wir als Christen dazu kommen, Menschen, die durch ihr Aussehen, ihr Verhalten oder ihren Lebensstil von der Norm abweichen oder aus dem Rahmen fallen zu kritisieren, zu korrigieren oder auch häufig zu diffamieren und zu verfolgen. Wie kommen wir eigentlich dazu, an Gottes Schöpfung unsere menschlichen Maßstäbe anzulegen? An eine Schöpfung, die wir trotz intensiver Forschung, Gentechnik und KI nicht einmal ansatzweise verstanden haben.
Was ist für Gott normal? Wir wissen es nicht! Auch wenn es immer wieder Menschen gibt, die meinen, uns vom Gegenteil überzeugen zu müssen. Schlussendlich entscheiden nicht wir, was oder wer aus dem Rahmen fällt, sondern allein er.
Aber wie dann umgehen, mit all den in unseren Augen eigenwilligen und ungewohnten Erscheinungen, merkwürdig fremden Sitten und Bräuchen, Sonderlingen oder Exoten?
Halten Sie es doch einfach mit dem norddeutsche Dichter Rudolf Tarnow, der in seinen Ringelranken von 1927 meint:

Mötst di nich argern, hett keinen Wiert,
Mötst di blot wunnern, wat all passiert,
Mötst ümmer denken, de Welt is nich klauk,
Jeder hett Grappen, du hest se ok!

Mit dem Wind ...

... über die März-Kolumne nachgedacht. 29 Märztage fallen in diesem Jahr in die österliche Fastenzeit. Und da bietet sich doch fast zwangsläufig ein eher besinnliches Thema an. Etwas Nachdenkliches über die Begriffe „Stille“ und „Schweigen“ vielleicht? Oder mal unsere St.-Otto-Hausexerzitien in den Fokus nehmen? Zur Abwechslung könnte ich in diesem Jahr auch die unterschiedlichen Fastenriten und -bräuche beleuchten.
Aber mal ehrlich: Der März liegt schon immer, also spätestens seit dem 6. Jahrhundert, in der Fastenzeit. Selbst die Gregorianische Kalenderreform hat daran nichts geändert. Restwinter, Fastenzeit, trübsinnig, grau, trostlos und viel zu lang! Der Monat ist einfach eine arme Socke!
Spätestens im März vergeht wahrscheinlich auch den eingefleischtesten Winter-Fans die Lust auf Schneeballwerfen, Langlauf oder Après-Ski. Es ist allerhöchste Zeit für einen Hauch oder besser noch eine richtig steife Brise Frühling!
Einkehr, Stille und Schweigen war lange genug. Das zumindest meinen die eskalierenden Vogelhorden, die sich weder durch einen der Frühlingsstürme aus Nordost noch durch gelegentliche Temperaturstürze in den Minusbereich von ihrer Vorfreude auf Sonne, Liebe und Leidenschaft abhalten lassen.
Wenn ich als „alter Sack“, wie meine Tochter mich gerne mal respektlos tituliert, vielleicht nicht unbedingt Liebe und Leidenschaft zum zentralen Thema meiner Märzkolumne erklären sollte, sieht das mit der Sehnsucht nach Sonne und Wärme ganz anders aus.
Die ersten Frühlingstage im März verbinde ich dabei besonders mit zwei Inseln, von denen ich auf der einen, der Nordseeinsel Langeoog, aufgewachsen bin. Dort gab es in jedem März irgendwann diesen sonnigen Nachmittag, an dem ich an der südwestlichen Backsteinwand unseres Hauses lehnte. Die Augen zusammengekniffen, den Reißverschluss des Parkas heldenhafte 10 cm geöffnet und mutig die Pudelmütze, die den langen Winter über mit meiner Kopfhaut verwachsen schien, zum ersten Mal seit fast vier Monaten vom Kopf genommen. So stand ich da und genoss die ersten Strahlen der Märzsonne im Gesicht, die warmen Backsteine in meinem Rücken und vergaß Zeit und Raum und die langen, kalten Wintermonate. Zumindest, bis sich die nächste Wolke vor die Sonne schob oder ich durch einen eisigen Windstoß schlagartig daran erinnert wurde, dass der Winter sich noch nicht ganz verabschiedet hat.
Und dann ist da noch diese zweite Erinnerung, die jedes Jahr pünktlich mit den ersten Sonnenstrahlen im März aufploppt. Die Klassenfahrt nach Föhr, Ende der 90er. Als junger Lehrer war ich noch unbedarft genug, um mit 28 Berliner Viertklässlern und der Deutschen Bahn für volle 10 Tage in ein Schullandheim auf diese wunderschöne Nordfriesische Insel aufzubrechen. Der Schnäppchenpreis von 10 Tagen zum Preis von 6 sollte dazu beitragen, mit Sparfüchsen wie mir, in der belegungsarmen Zeit das selbstbewirtschaftete Haus zu füllen. Zehn Tage unterwegs mit einem Haufen heimwehkranker Großstadtkinder und das in der Vor-Smartphone-Zeit! Da können die Tage ganz schön lang werden – müssen sie aber nicht.
Die Klassenfahrt nach Föhr hielt nämlich neben dem Luxus, den Tag ganz ohne das Diktat fest vorgeschriebener Essenszeiten verbringen zu dürfen, eine Dekade herrlichstes Frühlingswetter für uns bereit. Ich erinnere mich an einsame, frühmorgendliche Joggingrunden durch raureifglitzernde Wiesen, lange Nachmittage mit Büchern, Neckereien und Kickerrunden auf der Sonnenterasse, Wanderungen am Strand, gemeinsames Abhängen am Lagerfeuer und todmüde Schülerinnen und Schüler – erschlagen von viel zu viel Natur, Sauerstoff, Bewegung, Ruhe und Stille.
Oh! Da wollte ich das Thema „Stille“ doch eigentlich weglassen und galant in den November verschieben?! Und jetzt das: Stille, Ruhe, Entspannung! Und das mitten hinein in die Aufbruchsstimmung der Natur! Zerschieße ich mir da gerade etwa ungewollt meine eigene Kolumne? Oder beginne ich vielleicht den eigentlichen, den tieferen Sinn der vorösterlichen Fastenzeit zu begreifen? Da geht es nämlich vielleicht gar nicht um Trübsinn, Reue, Entbehrung und Verzicht, wie uns das leider viel zu oft gepredigt wird. Vielmehr schenkt uns diese Zeit eine Pause, eine Möglichkeit, zumindest gedanklich und spirituell das Hamsterrad unseres Alltags für einige Zeit zu verlassen. Wie eine Klassenfahrt auf eine frühlingseinsame Insel den stundenplangetakteten Schulalltag unterbricht.
Die Fastenzeit als Reset. Und für den brauchen wir keine Pläne, keine Fasten-Vorsätze, keine Selbstkasteiung, sondern nur den Mut, aufzubrechen und zuzulassen. Ich sage nur: 28 Zehnjährige, Deutsche Bahn, achtmal umsteigen, kein Telefon, Selbstversorgung statt VP, 10 für 6. Ein bisschen Irrsinn gehört schon dazu.
Und wenn es uns dann vielleicht sogar gelingt, die Fastenzeit als eine Art Vorfrühling zu feiern, die als helle, freundliche, Herz und Geist erwärmende Zeit des Aufbruchs dem Osterfest den Weg bereitet, dann sind wir gut vorbereitet, auf alles, was da kommt! 

Mit dem Wind ...

... im Hamsterrad der negativen Gedanken gefangen. Eine fatale Situation, die ich nicht nur vom Radfahren kenne, sondern die mich ab und zu auch um meinen kostbaren Nachtschlaf bringt.
Aber jetzt erst mal zwei Schritte zurück!
Normalerweise quellen und fließen die Idee, Pläne und Erkenntnisse auf meinen Radtouren mit jeder Pedalumdrehung wie der süße Brei im gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm aus seinem Töpfchen. Deshalb bin ich ja so gern mit dem Rad unterwegs. Wie von selbst verbinden und ergänzen sich die Gedanken zu einem Netz der Erkenntnis. Und das ganz ohne Anstrengung, sieht man mal vom überschaubaren Kraftaufwand des Pedalierens ab.
Es gibt da aber leider auch diese unerfreulichen Tage, an denen sich mein Gedankenfluss, ganz ohne erkennbaren Grund, in die völlig falsche Richtung bewegt. Wie ein Mühlbach, der plötzlich die gewohnte Fließrichtung ändert und das Mühlrad gegen den Strom dreht. Zunächst noch langsam und ein wenig unbestimmt, dreht sich das Mühlrad mit jeder Pedalumdrehung schneller, tosender, intensiver. Ein anfänglich nur kleine Ärger, eine kaum wahrnehmbare Missstimmung, wächst, dreht sich um sich selbst, nimmt Tempo auf, wie ein Sonnenrad an Silvester. Der Ärger und negative Gedanken sprühen Funken und wollen sich einfach nicht beruhigen lassen. Mein kläglicher Versuch, der Negativspirale einen positiven Gedanken entgegenzusetzen geht im rasenden Funkenflug genauso unter, wie mein trotzig gebetetes Vater Unser. Keine Chance, solange sich die Pedale drehen.
Nun sind Sie vielleicht nicht regelmäßig mit dem Rad unterwegs, aber durchwachte Nächte, in denen Sie einem rasenden Gedankenkarussell hilflos ausgeliefert sind, kennen Sie mit Sicherheit. Da schlummert man friedlich ein, wacht mitten in der Nacht unvermittelt auf und der Irrsinn beginnt. Die Negativspirale nimmt Fahrt auf, dreht sich zunehmend schneller, immer verwirrender, absurder, lauter und lässt sich weder bremsen noch anhalten. Und das Ergebnis? Eine Nacht zum Vergessen und ein Morgen, der schon völlig abgefrühstückt beginnt.
Klar: Manchmal kennen wir die Ursache für solch alptraumhafte Nächte und können uns zumindest im Nachhinein erklären, was da los war. Aber viel häufiger – zumindest geht es mir so – fehlt doch jede rationale Erklärung für dieses „Malstrom-Phänomen“.
Sie fragen an dieser Stelle nach einem Gegenmittel? Hm. Beim Radfahren gibt es tatsächlich eine erprobte Möglichkeit, die negative Gedankenspirale zu durchbrechen: Anhalten und absteigen. Am besten vor einem netten Café. Ein Stück Torte, zwei Pötte Kaffee und meistens ist dann alles wieder gut. Heiß und fettig! Das hilft fast immer. Deshalb funktioniert alternativ auch  der Stopp an der Fischbude. Vorausgesetzt die verfügt über eine Fritteuse. Von wegen fettig und heiß! Nach dreißig Minuten Aufenthalt an einer solchen Kalorientankstellen ist der Spuk vorbei, die Spirale von einem Kalorienberg erfolgreich erdrückt, verbogen und demontiert worden. Versprochen!
Und nachts? Da ist die Sache deutlich schwieriger, finde ich. Aufstehen, anziehen und dann? Finden Sie mal in Wolgast morgens um 3 Uhr einen Fischimbiss oder ein geöffnetes Café! Selbst der „Späti“ am Rathausplatz, der bis 24 Uhr noch mit einer Bockwurst aushelfen könnte, ist um diese Zeit geschlossen.
Also die Partnerin oder den Partner wecken und ihr bzw. ihm sein Leid klagen? Schließlich ist man bei geteiltem Leid ja zumindest die Hälfte los! Oder bekommt stattdessen einen verdienten Einlauf.
Ja nachts ist es tatsächlich wesentlich herausfordernder, dem „Malstrom-Phänomen“ zu entkommen. Aufstehen, Musik hören, den Fernseher anschalten oder tatsächlich mitten in der Nacht auf die Heiß-und fettig-Methode zurückgreifen und ein Spiegelei in die Pfanne hauen? Alles Optionen. Nur im Bett liegenbleiben ist definitiv keine Lösung.
Ich setzte mich übrigens gern mit einer Tasse Tee auf unser Sofa und schaue nach Süden auf den beleuchteten Turm der Wolgaster Petrikirche oder alternativ nach Osten auf die Fahrwasserbegrenzungstonnen im Peenestrom. Rot und grün. Kein Blinken. Höchstens ein zartes Schwanken in der Strömung.
In St. Otto würde ich wahrscheinlich meine Hausschuhe anziehen, den Morgenmantel überwerfen und mich mit meiner Tasse in unsere Kapelle setzten. Die ist 24/7 geöffnet und den lieben Gott stört mein Tee sicher nicht. Den Ärger und die wirren Gedanken kann man da gleich an kompetenter Stelle abladen. Ich bin mir absolut sicher, dass das funktioniert. Schreiben Sie mir gern, wenn sie über entsprechende Erfahrungswerte verfügen!
Und dann? Wenn sich der Spuk der Nacht in der Morgendämmerung eines grauen Februartages endlich verzogen hat? Dann nehmen Sie die Erleichterung mit, dass das Leben selbst im februartrüben Tageslicht so viel erfreulicher aussieht als noch in dieser unruhigen Nacht, dass der Mühlbach wieder ordentlich bergab fließt und das zornige Sonnenrad seine zerstörerische Kraft gänzlich verloren hat.
Lassen Sie sich von solchen Nächten oder auch Tagen auf dem Rad nicht aus der Fassung bringen, sondern fassen Sie dem „Malstrom-Phänomen“ zum Trotz einen guten Gedanken, der sie durch den neuen Tag oder auf ihrer Weiterfahrt begleitet. Dann ist der Alptraum so schnell wieder vergessen, wie er sich breitgemacht hat.

Mit dem Wind ... auf die Heiligen Drei Könige gewartet. Oder doch auf die drei Weisen aus dem Morgenland, die drei Magier oder die drei Gelehrten? Es gibt wohl keine Gestalten in der Bibel, die sich hinter einer derart großen Anzahl von Pseudonymen verstecken wie die drei ewigen Zuspätkommer, deren Fest wir am 6. Januar feiern. Und zu spät waren sie ja wohl, die Herren Caspar, Melchior und Balthasar. Ganze zwei Wochen.

Das sollte uns mal passieren! Zwei Wochen zu spät zum Wochenbettbesuch im Krankenhaus. Die würden sich auf der Entbindungsstation nicht mal mehr an die Mutter erinnern!
Und wahrscheinlich hatten die Herren Könige jede Menge Ausreden parat: Der lange Weg! König Herodes hat uns aufgehalten! Mieses Wetter und schlechte Straßen! Der Stern hat uns in die Irre geführt! Das kennen wir doch auch irgendwoher. Immer liegt die Schuld für unser Zuspätkommen bei anderen oder an den ungünstigen Umständen.
Als letztes Mittel, um ihren Fauxpas ein wenig zu überdecken, haben sie dann noch reichlich Geschenke mitgebracht. Weihrauch, Myrre und – hört, hört! – Gold! Da haben sie sich wirklich nicht lumpen lassen, die Herren Könige. Aber mal ehrlich Leute: zwei ganze Wochen!
Zu spät? Weihnachten? Da fällt mir ein Umstand ein, der mich jedes Jahr – pünktlich am 24.12. – in eine mittlere Krise stürzt. Dann, wenn die gesamte Weihnachtspost mit einigem Stress und wie immer auf den letzten Drücker verschickt ist, ich die wirklich allerletzten Grüße noch rasch per World Wide Web auf elektronischem Weg in den Orbit gejagt habe und schließlich gegen 13 Uhr zur finalen Inspektion meines Hausbriefkastens schreite.
Vier Briefe. Weihnachtspost! Wie schön! Aber – und jetzt schlägt die Begeisterung in Verzweiflung um – von vier Menschen, die ich in diesem Jahr tatsächlich nicht mit weihnachtlichen Grüßen bedacht habe. Seit Jahren nichts von denen gehört. Nie Antwort auf meine regelmäßigen Karten erhalten. Die Beziehung wohl nur noch eine Einbahnstraße. Ein nostalgisches Festklammern meinerseits. Und jetzt das!
Noch schnell eine freundliche Mail auf den Weg bringen? Geschenkt! Die Mailadressen von den Vieren hab ich natürlich nicht. Dazu war der Kontakt in all den Jahren viel zu sporadisch. Die Post nach Weihnachten beantworten? Spätestens beim Blick auf den Poststempel sieht doch jeder Depp, dass nicht etwa die Schneckenpost die Schuld trägt, sondern die Karte erst nach Weihnachten eingeworfen wurde und somit einen untrüglichen Beweis für vergessene Weihnachtswünsche darstellt.
In diesem Jahr, so mein fester Entschluss, werde ich mich nicht mit einem schlechten Gewissen herumplagen. Im Gegenteil! Ich mache es ganz einfach wie die drei Weisen. In aller Ruhe setzte ich mich im Januar oder auch erst im Februar hin und schreibe jedem von den Vieren einen schönen, langen Brief.
Denn mal ehrlich: Im ganzen Glückwunsch- und Geschenkechaos der Weihnachtszeit geht doch Vieles unter. Die „geballte Ladung“ von allem – Geschenke, Weihnachtsfeiern, Einladungen, Gottesdienste, Weihnachtsmärkte und eben auch Weihnachtspost – sorgt dafür, dass der Kontrast zu den beiden meist trüben Jahresanfangsmonaten oft erst so richtig deutlich wird.
Vielleicht war das auch der eigentliche Grund für das verspätete Eintreffen der Heiligen Drei Könige. Die waren gar nicht zu spät! Im Gegenteil. Die wussten ganz genau, dass ihr Erscheinen kurz nach der Geburt die jungen Eltern mit Sicherheit zusätzlich gestresst hätte: Drei Könige am Wochenbett! Das will erst mal verkraftet werden. Und das zusammen mit einem Haufen Hirten, Engel und wer weiß welchem Volk. Da waren Ochs und Esel noch das geringste Problem.
Zwei Wochen später hatten sich Maria und Josef wahrscheinlich schon besser mit ihrer Ausnahmesituation arrangiert, mal Luft geholt und konnten so den Besuch der Könige vielleicht sogar genießen?
Vielleicht nutzen wir die trübe, graue und lichtarme Zeit bis zum Frühling, um liebe Menschen zu besuchen, Überraschungsanrufe zu starten oder mal wieder einen richtigen Brief zu schreiben?
Die Feste feiern, wie sie fallen, ist wichtig. Sonst würden sie ihren festlichen Charakter, ihre besondere Stellung im Jahreskreis verlieren. Aber genauso wichtig ist es auch, gerade in den „Trübe-Tassen-Zeiten“ den Kontakt zu lieben Freunden zu suchen, oder alten Verbindungen neues Leben einzuhauchen. Das sorgt für Freude und hilft auch uns selbst.
Etwas Licht in die grauen Wintermonate tragen und so dem ein oder anderen Mitmenschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern! Ein guter Vorsatz, nicht nur für diesen Jahresbeginn.

Mit dem Wind ... und auch gegen den Wind über die Quadratur des Lebens sinniert. Sagt Ihnen nichts? Na dann passen Sie mal auf! Hier an der Küste weht ja gern mal eine steife Brise. Ganz besonders in der kalten Jahreszeit. Und wenn ich mich am Wochenende bei Windstärke 6 oder mehr für eine 60 Kilometerrunde auf mein Rad schwinge, dann ist die entscheidenden Frage nicht, wohin mich mein Weg führt, sondern woher der Wind weht.

Wobei: Eigentlich ist die Entscheidung bei ordentlich Wind ganz einfach. Da fahre ich meist vier Runden im Quadrat über die Felder bei Sauzin, Krummin und Neeberg. Langweilig? Überhaupt nicht! Außerdem fast kein Verkehr und viel Zeit, die Gedanken fliegen zu lassen. Besonders gut fliegen die natürlich auf der Seite des Quadrats, auf der der Wind von hinten schiebt. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht das ganz anders aus. Da muss ich ordentlich kämpfen, um überhaupt voranzukommen. Ja und dann gibt es natürlich noch die beiden Seiten während meiner „Quadrattour“, auf denen der Wind von rechts beziehungsweise links bläst. Seitenwind also. Die entscheiden übrigens letztendlich darüber, ob ich zwei, drei oder vier Runden unterwegs bin. Denn, wenn man mich auf der Rückenwind-Seite fragen würde, wären sogar 6 oder 8 Runden drin, während ich mich auf der Gegenwind-Seite regelmäßig dafür in den Hintern treten könnte, dass ich mich übermütig auf eine weitere Runde eingelassen habe. Gäbe es nur die beiden Seiten – ich würde ewig kreisen. Hü und Hott, Yin und Yang, Rückenwind und Gegenwind – ein ewiger Kreislauf. Wenn aber schließlich auch die Strecke auf einer der beiden Seitenwind-Passagen anstrengend wird, dann ist es an der Zeit, nach Hause zu fahren.

Und was hat das Radeln im Quadrat nun mit dem Leben gemein? Ganz einfach alles!
Da gibt es die Lebensphasen mit Rückenwind, während der es fast von selbst rollt. Und genauso kennen wir alle auch Zeiten, in denen uns der Wind mächtig ins Gesicht pustet und wir ordentlich strampeln müssen, um überhaupt voranzukommen. Zwischen diesen beiden Lebensabschnitten finden sich auch immer wieder Zeiten, in denen das Leben einfach vorbeizieht. Oft bezeichnen wir die als „unseren Alltag“.
Wie bei meinem Radtour-Quadrat wechseln sich die einzelnen Lebensphasen ab. Dabei kommen einem die Abschnitte mit Gegenwind meist viel länger vor, als die Zeiten, in denen das Leben leicht und locker dahingleitet. Das ist auf dem Rad ganz genauso. Für fünf Kilometer mit Rückenwind benötigt man nur einen Bruchteil der Zeit, den man für die gleiche Strecke gegen den Wind veranschlagen muss. Und doch sind beide Strecken absolut gleich lang.
Selten wechselt unser Leben übergangslos von überbordender Freude zu Leid, von Stress zu Entspannung, von Glück zu Pech oder umgekehrt. Zwischen den Extremen liegen diese „Seitenwind-Abschnitte“. Unauffällig und viel zu oft ungenutzt. Mal aus Angst vor dem nächsten Abschnitt mit Gegenwind. Dann wieder aus Vorfreude auf eine mögliche Rückenwindpassage. Unser unspektakulärer Alltag.
Wenn wir aber immer nur auf ein Ziel hinleben oder uns vor einer kommenden Aufgabe fürchten, dann verpassen wir eine ganze Menge, vielleicht sogar den größten Teil unseres Lebens.
Ach, unser Leben! Ist das nicht ohnehin nur ein Jammertal, durch das wir uns auf dem Weg ins Himmelreich notgedrungen quälen müssen? Von dieser christlich-mittelalterlichen Theorie bezüglich unseres irdischen Lebensweges habe ich noch nie viel gehalten. Warum, bitteschön, sollte uns ein liebender Gott ein ganzes Leben lang quälen wollen, nur um uns dann schlussendlich in einer Art Gnadenakt durch den Tod zu erlösen?
Ich denke viel eher, er hat unser irdisches Leben ganz bewusst so vielfältig und abwechslungsreich gestaltet. Fahren Sie doch mal 50 Kilometer mit Rückenwind. Was am Anfang noch Spaß macht, wird spätestens nach einer halben Stunde bärig langweilig. Und immer nur Gegenwind? Da steigt man irgendwann ab und lässt sein Rad stehen. Hab ich auch schon gemacht.
Die Abwechslung aber sorgt dafür, dass wir uns nicht in eingefahrenen Bahnen bewegen, sondern offen, neugierig und wach bleiben, für das, was das Leben bietet – für das, was uns Gott geschenkt oder auch aufgetragen hat.
Egal auf welcher Seite Ihres Lebensquadrates Sie sich gerade befinden: Die nächste 90°-Biege kommt bestimmt. Und vergessen Sie nicht, die Abschnitte, auf denen der Wind ganz unspektakulär von der Seite pustet, den sogenannten Alltag, zu nutzen. Für sich, für andere und vielleicht auch mal für Gott.

„Mit dem Wind“... aufs Rad gesetzt und an einem Morgen im Oktober direkt hinter der Ortseinfahrt Sauzin nach links, auf den kleinen Weg zwischen den Feldern, eingebogen. Da ist immer eine gute Zeit fürs Morgengebet und die Planung des Tages. Manchmal geht beides auch ineinander über, vermischt sich und entwickelt sich zu einer netten Unterhaltung.

Der Weg durch die Felder führt zunächst nach Norden und dann – nach wenigen hundert Metern – in Richtung Osten. An diesem Morgen ist genau das ein Grund, das Tempo umgehend auf Schrittgeschwindigkeit zu reduzieren. Ich war nämlich ganz plötzlich blind!
Die aufgehende Sonne strahlte mir direkt in die Sonnenbrille. Und mangels Schirmmütze oder Sonnenblende, wie im Auto, blieb mir nichts anderes übrig, als mich vorsichtig voranzutasten. Auch das war noch unverantwortlich, denn selbst mit einer schützenden Hand über den Augen betrug die Sichtweite keine fünf Meter.
oder auch …
„Mit dem Wind“... auf Rad gesetzt und an einem Oktobermorgen direkt hinter der Ortseinfahrt Sauzin nach links, auf den kleinen Weg zwischen den Feldern, eingebogen. Da ist immer eine gute Zeit fürs Morgengebet und die Planung des Tages. Manchmal geht beides auch ineinander über, vermischt sich und entwickelt sich zu einer netten Unterhaltung.
Der Weg durch die Felder führt zunächst nach Norden und nach wenigen hundert Metern lässt man das Örtchen hinter sich. An diesem Morgen gab es einen Grund, das Tempo umgehend auf Schrittgeschwindigkeit zu reduzieren. Ich war nämlich ganz plötzlich blind!
Der wabernde Herbstnebel, der zuvor schon dafür gesorgt hatte, dass ich die Sonnenbrille abnehmen und in der Helmhalterung unterbringen musste, entwickelte sich zu einer undurchdringlichen, weichen, weißen Wand. Und schon wieder blieb mir nichts anderes übrig, als mich vorsichtig voranzutasten. Auch das war noch unverantwortlich, denn selbst mit weit aufgerissenen Augen betrug die Sichtweite keine fünf Meter.
Der Oktober schafft es wie kein anderer Monat diese beiden Naturschauspiele nicht nur abwechselnd, sondern mitunter sogar gleichzeitig in Szene zu setzen. Vernebelte Sonnenaufgänge sind seine Spezialität. Nur der März kann da manchmal noch mithalten.
Und was wird an einem solchen Oktober-Sonnen-Nebel-Morgen aus der Tagesplanung? Die ist zunächst einmal hinfällig. Den pünktlichen Arbeitsbeginn kann man vergessen.
Aber wenn sich der erste Anflug von Ärger über das aufgezwungene Schneckentempo gelegt hat, dann gelingt es mir in der Regel, die Fahrt in die Sonne oder durch den Nebel zu genießen. Manchmal denke ich dann, der liebe Gott war vielleicht mit meiner Tagesplanung nicht ganz einverstanden. Ein dreiminütiges Kurzgebet? Da geben wir dem Constantin doch mal ein paar Extraminuten der Besinnung! Und ganz ehrlich: Bedauert habe ich diese Zusatzzeit noch nie. Wird sie doch garniert und versüßt durch ein wunderbares Naturschauspiel. Der liebe Gott hat’s halt drauf. Zuckerbrot und – liebevollen Anstoß.
Ein besonderes Arbeitsmorgen-Nebel-Erlebnis, das allerdings schon einige Jahre zurückliegt, möchte ich Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten.
Damals führte mich mein täglicher Weg ins Büro noch durch den Spandauer Forst und im Anschluss viele Kilometer durch den Berliner Berufsverkehr. Natürlich mit dem Rad. Mit was auch sonst?
An einem völlig vernebelten und schon herbstlich kalten Oktobermorgen – mein Rad war mit drei Rücklichtern, einem extrahellen Frontstrahler und reflektierenden Reifenflanken auch für diese Witterung bestens ausgerüstet – kroch ich im Schneckentempo über eine einsame Straße im Norden Spandaus. Der Nebel verschluckte jedes Geräusch. Meine Klarsicht-Brille war – trotz Antibeschlag-Beschichtung und regelmäßiger Putzversuche mit dem Fahrradhandschuh – so gut wie undurchsichtig. Zum Glück hätte ich die Route ins Büro auch im Schlaf gefunden. Trotzdem tastete ich mich sicherheitshalber nur vorsichtig voran. Ein Blindenführhund wäre jetzt nicht schlecht, dachte ich gerade, als ein plötzlicher Widerstand auf der Brust meine Fahrt abrupt stoppte.
„Biste blind, Meester?!“ Die Stimme, die durch den weißen Vorhang drang, gehörte offensichtlich zu der Hand, die weiterhin auf meine Brust drückte, und die ich jetzt, nachdem ich die Brille nach oben geschoben hatte, deutlicher erkennen konnte. Die Hand trug einen orangefarbenen Handschuh und ihr Besitzer die Arbeitskleidung der BSR. Den Müllwagen, dessen offenes Heck direkt hinter dem Mann auf die nächste Tonne oder auch einen nebelblinden Radfahrer wartete, sah ich jetzt auch ...
Während ich – jetzt ohne Brille, dafür aber mit einer gehörigen Portion Dankbarkeit in der Satteltasche – weiterradelte, kam mir die Hand Gottes in den Sinn. Vielleicht, so mein Gedanke, verleiht Gott diese, seine schützende Hand manchmal. So, wie gerade eben an den Mitarbeiter der Müllabfuhr.
Ich wünsche Ihnen in diesem Herbst ganz besonders diese schützende Hand Gottes. Bleiben Sie gesund und kommen Sie unfallfrei durch die dunkle Jahreszeit!

Mit dem Wind ... ordentlich geschwitzt auf meinem Fahrrad. Das wäre mit Gegenwind nicht passiert. Aber ich war wohl nicht der einzige, an diesem Sonntagnachmittag im August. Die Sonne brachte den Asphalt zum Glühen. Der Schweiß rann mir den Rücken hinab. Ich schaute in den wolkenlosen Himmel und sah mehrere Greifvögel kreisen. Mäusebussarde. Die hatten es gut. Da oben war es bestimmt um einiges luftiger! Und um ihre Beute, also die kleinen Mäuschen, zu erspähen, mussten sie nichts an ihrer Flughöhe ändern. Noch aus 3000 Metern Höhe können diese Greifvögel mit ihren Adleraugen die Urinspuren der kleinen Nager erkennen. Also nicht riechen, sondern sehen natürlich!

Ganz plötzlich setzte einer der Bussarde zum Sturzflug an. Hatte der etwa einen Happen zum Vernaschen entdeckt? Nur 20 Meter vor meinem Rad griff der Raubvogel am Straßenrand mit seinen Klauen zu und schwang sich ohne Zwischenstopp wieder in die Luft. Arme Maus, dachte ich gerade noch, als der Bussard seine Beute kommentarlos fallen ließ.
Zu dick? Zu schwer? Unappetitlich? Das musste ich herausfinden. Ich bremste ab und passierte im Schneckentempo die Stelle, an der der Greifvogel seine Beute fallengelassen hatte. Dort lag – ein Tannenzapfen!
Was war das denn?! Ein Bussard mit Sehschwäche? Vielleicht doch die Hitze? Oder einfach ein Volltrottel? Ich sah nach oben. Da kreiste der Versager wieder in aller Seelenruhe zwischen seinen Kollegen. Na, die würden sich ordentlich den Schnabel über diesen Blindfisch zerreißen!
Den Schnabel zerreißen über andere. Das kriegen wir auch gut hin. Da wäre zum Beispiel der Depp, der vergessen hat beim Abbiegen den Blinker zu setzen, der Trottel, der sich ohne Sonnenschutz den halben Tag in die Strandburg gelegt hat und danach aussah wie ein rohes Steak. Alternativ auch die dämliche Schülerin, die mal wieder „nämlich“ mit „h“ geschrieben hat oder der Gottesdienstbesucher, der die Zeitumstellung verpasst hat und erst zum Schlusssegen in der Kirche eintraf.
Täglich erleben wir Situationen, in denen unsere Mitmenschen Fehler machen – objektiv oder auch nur unserer Ansicht nach. Und nur zu gern reiben wir ihnen die unter die Nase, regen uns darüber auf, hacken auf diesen offensichtlichen Volltrotteln herum. Dabei wissen wir alle ganz genau, wie sich das anfühlt, der Dummbatz, Idiot, Schwachmat oder was auch immer zu sein. Aus eigener Erfahrung. Und hält uns das davon ab, uns über andere aufzuregen? Eher selten. Allein die Fülle an Bezeichnungen, die unsere Sprache für Pfeifen wie diesen Bussard bereithält, spricht Bände. Wir lieben es, uns über andere aufzuregen.
Über uns Menschen aufregen. Das könnte sich der liebe Gott wahrscheinlich stündlich, minütlich, sekündlich – ach was sage ich: am Stück!
Da hat er uns ein wirkliches simples Gebot, eine ganz einfache Regel, gegeben: Liebe deinen Nächsten! Und seien wir mal ehrlich: Wie oft geht das bei uns Versagern tagtäglich in die Hose? Ein einfaches Gebot, und wir sind komplett überfordert. Vielleicht ein Anlass, in Zukunft mit den Fehlern der anderen mehr Nachsicht zu üben?
Auf dem Heimweg kam ich natürlich auch wieder am Tannenzapfen vorbei. Der lag noch da, wo der Bussard ihn fallengelassen hatte. Ein Anlass, mich im neu entdeckten positiven Denken zu üben: Vielleicht war die Tannenzapfenattacke ja nur ein Übungsmanöver gewesen? Aus Langeweile, weil sich sonst nichts tat. Oder eine Wette mit den Kumpels am Himmel?
Vielleicht hatte der Bussard aber auch im letzten Moment Mitleid mit der anvisierten Maus und mit voller Absicht daneben gegriffen?
Ich muss zugeben: Die letztgenannte Möglichkeit gefällt mir am allerbesten. Schlagen wir doch in Zukunft unsere Klauen nicht gleich in alles und jeden, sondern orientieren wir uns stattdessen mehr und mehr an diesem kleinen, unscheinbaren und doch so unendlich herausfordernden Gebot: Liebe deinen Nächsten.

Mit dem Wind ... auf dem Weg zur Arbeit über den Radweg in Richtung Trassenheide gerollt. Ein herrlicher Sommer-Ostsee-Morgen! Nicht zu warm, ein strahlend blauer Himmel mit vereinzelten Schäfchenwolken, eine frische Brise und – noch niemand auf den Beinen. Obwohl: Da vor mir, noch in einiger Entfernung, rührte sich etwas. Beim Näherradeln sah ich dann, wer da schon morgens um halb 8 auf „meinem“ Radweg unterwegs war. Ein Trio bewegte sich – aufgereiht wie an einer Perlenschnur – in flottem Tempo vorwärts. Die Spitze bildete eine kleine Radlerin auf einem winzigen Kinderrad. Wenn die mal vier ist, dachte ich, während ich mich der Gruppe gemächlich näherte. „Verfolgt“ wurde der Zwerg von einer jungen Joggerin – offensichtlich ihrer Mutter. Den Schluss der Karawane bildete ein hübscher Golden Retriever.

Wie in einem schmalzigen Vorabendfilmchen à la Rosamunde Pilcher oder Inga Lindström, diese Idylle, dachte ich noch, bevor ich den Moment der Harmonie durch den Einsatz meiner Fahrradklingel unterbrechen musste. Ganz sachte, denn eigentlich wollte ich gar nicht stören. Aber irgendwie musste ich ja an der Trainingsgruppe vorbei.
Mein Klingeln löste aber keineswegs Hektik, Chaos oder wütendes Gebell aus. Im Gegenteil: Eine unscheinbare Handbewegung der jungen Frau sorgte dafür, dass der Hund zu ihr aufschloss und bei Fuß weitertrabte. Ein kurzer Ruf nach vorn und die kleine Radlerin fuhr an den rechten Wegrand. Das alles geschah, ohne dass jemand einen Blick nach hinten, also auf mich, warf. Auch das Tempo behielten die Drei bei. Ja und selbst für ein fröhliches „Guten Morgen“ in meine Richtung reichte die Luft noch, als ich das Trio passierte. Keine Spur von Nervosität bei der Mutter. Respekt, dachte ich, und hätte am liebsten meinen Hut gezogen. Aber der Fahrradhelm war festgezurrt. Keine Chance!
Wer wie ich versucht hat, drei Kinder und einen dickköpfigen, eigenwilligen Hund zu erziehen, der weiß, wieviel Arbeit, Geduld, Erziehungszeit und nicht zuletzt, welche Konsequenz für diesen Moment der Harmonie nötig war. Mein Hund zumindest hätte mir den Vogel gezeigt und sich laut bellend auf die pedalierenden Füße des radelnden Angreifers gestürzt. Meine Kinder? Da äußere ich mich lieber nicht detailliert …
Die Früchte der Arbeit. Diese abgenudelte Lebensweisheit ist eben doch nicht aus der Luft gegriffen oder reserviert für Tätigkeiten in der Landwirtschaft oder dem Handwerk. Auch Idylle und Harmonie sind nicht gottgegeben. Was manchmal so einfach, so selbstverständlich aussieht, ist in den allerseltensten Fällen das Resultat eines lockeren Fingerschnippens.
Die anderen haben einfach die pflegeleichteren Kinder, die von Natur aus gehorsamen Hunde und die treu ergebenen Ehepartner, die ihnen jeden Wusch von den Augen ablesen. Nur ich bin von Gott mit schwererziehbaren Gören, einem renitenten Köter und einer herausfordernden Partnerin geschlagen!
Ja, man kann es sich leichtmachen und den anderen oder hilfsweise auch gleich dem lieben Gott die Schuld an seinem offensichtlich besonders harten persönlichen Schicksal in die Schuhe schieben. Das ist aber wenig hilfreich und – das wissen wir auch ganz gut selbst – falsch.
Stattdessen sollten wir vielleicht ab und zu einfach anerkennen, dass manche Menschen die ein oder andere Sache besser im Griff haben als wir, feststellen, dass die kitschige Fernsehwirklichkeit auch – zugegeben selten – im richtigen Leben funktionieren kann und uns schließlich darüber freuen, dass wir eine ganz besondere Familie haben. Nämlich genau die, die zu uns passt!
Genießen Sie den Sommer, ob mit oder ohne Hund an der Hacke und erfreuen Sie sich daran, wie schön diese Welt gerade aufgrund der Unterschiedlichkeit ihrer Bewohner ist. Wie hieß doch gleich dieser Begriff dafür? Ach ja: Diversität!
Obwohl: Mein nächster Hund wird konsequenter erzogen. Ganz sicher! Bei den Kindern ist das wohl zu spät. Und die Enkel? Nee, nee – die werden ver- und nicht erzogen!

Mit dem Wind ... doch das ein oder andere Urlaubsfoto gemacht. Schließlich möchte man seine Erzählungen über die „schönsten Tage des Jahres“ auch entsprechend illustrieren. Genau genommen gibt es eigentlich nur zwei Gruppen von Urlaubsfotografen. Zum einen wären da die Chronisten. Sie arbeiten sich durch ihren Urlaub, wie durch die Gebrauchsanleitung einer Waschmaschine. Alle Sehenswürdigkeiten werden systematisch im Bild festgehalten, wobei unter jedem Foto der gleiche Satz stehen könnte: Ich war da! Selbst Familienfotos werden, der selbstverordneten Dokumentationspflicht geschuldet, an Urlaubs-Hotspots inszeniert: vor dem Eifelturm, vor dem Kolosseum, an den Niagarafällen, vor Schloss Neuschwanstein. Die Sehenswürdigkeiten sind häufig sehr groß. Vor allem im Verhältnis zu Körpergröße der vor ihnen positionierten Familienmitglieder …

Die zweite Gruppe – ich würde sie die Empathiker nennen – möchte mit der Auswahl ihrer Fotomotive eine Stimmung, einen Augenblick, ein Gefühl festhalten. Da kommt es schon mal vor, dass 90% der Bilder aus dem Schwedenurlaub, Seen in waldreicher Umgebung abbilden. Maximal ergänzt durch das ein oder andere Häuschen im typischen Schwedenrot. Es war soooo schön! Oder nehmen wir die 112 Bilder vom Sonnenaufgang an der Ostsee, die sich bestenfalls durch die unterschiedliche Position der Möwen vor der aufgehenden Sonne unterscheiden. Herrlich war es am Meer!
„Bilder sind ein Spiegel unserer Seele.“ Wie wahr! Auch der Satz „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, ist nicht aus der Luft gegriffen. Nur läuft das mit den Bildern oft ganz ähnlich wie mit unseren verbalen Äußerungen: Nicht immer werden wir so verstanden, wie wir uns das vorgestellt haben. Was wir fotografieren und auch wie wir dies tun, erzählt womöglich mehr über uns – die Fotografierenden – als über das im Bild festgehaltene Motiv. Sie glauben gar nicht, wie weit das Feld möglicher Interpretationen oft ist. Wenn wir die auch nur ansatzweise auf dem Schirm hätten, würde so manches Foto bestimmt nie entstehen und erst recht nicht verbreitet werden.
Beispiel gefällig? Nehmen wir doch ein früher undenkbares, inzwischen aber ganz alltägliches „Urlaubs-Food-Foto“. Im letzten Griechenlandurlaub auf Mykonos entstanden und schnell mal – quasi in Echtzeit – über WhatsApp an alle Kontakte gepostet. Motiv: Riesiger Bauernsalat neben einem randvollen Saftglas mit Ouzo. Ich liefere mal eine kleine Auswahl möglicher Interpretationen: „Hier stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis noch!“ „Diät im Urlaub? Was ist mit Gyros?“ „Immer diese Alkoholexzesse!“ „Bestimmt kein Bio!“ „Schnaps, das war sein letztes Wort!“ „Was interessiert mich dein Essen?!“
Die Reihe ließe sich wahrscheinlich unendlich fortsetzen. Dabei wollte uns der Fotograf vielleicht nur an einem besonders schönen Moment seines Tages teilhaben lassen, für dessen Beschreibung ihm die Worte fehlten, dessen Besonderheit sich aber – das haben Sie sicher erkannt – durch das Bild auch nur begrenzt ausdrücken lässt. Oder im Gegenteil: Das Bild lässt grenzenlose Interpretationen zu. Salat und Ouzo. Eine Speise und ein Getränk. Eigentlich völlig eindeutig und doch auch wieder nicht.
Auch Jesus hatte schon das Problem mit den Interpretationen. Zwar hat er nicht fotografiert, und gemalt hat er – außer mit dem Finger im Sand des Sees Genezareth – auch nicht. Aber er hat versucht, mit seinen Gleichnissen Bilder zu zeichnen, um komplizierte Sachverhalte anschaulicher zu verdeutlichen, als dies später etwa Paulus mit seinen komplexen, philosophischen Texten tat.
Hat es ihm was genützt? Kaum! Jesus wurde mit seinen einfachen, zeitgemäßen Bildern trotzdem missverstanden. Immer wieder. Bewusst und unbewusst.
Ob Text oder Bild: Der Rezipient entscheidet ganz allein darüber, was er aus einem Text herausliest oder wie er ein Bild interpretiert. Dessen muss sich der Autor, Fotograf oder Maler bewusst sein.
Insofern sollten wir manchmal überlegen, was wir da von uns preisgeben, wenn wir scheinbar harmlose Bilder aus unserem Urlaubs-Leben einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Andererseits muss man auch nicht aus allem eine Wissenschaft machen. Mein Kommentar zum geschilderten griechischen Abendessen war eindeutig: Lecker! Und das bekannte Daumen-Hoch-Zeichen.
Den kriegen Sie jetzt auch von mir – den Daumen! Sie haben es geschafft, sich – vielleicht sogar im Urlaub – durch diesen langen Text zu arbeiten.
Jetzt haben Sie sich ihren Bauernsalat, ein Fischbrötchen, ein Schnitzel oder auch eine stinknormale Stulle verdient! Was Sie dazu trinken? Ist mir völlig egal! Aber ein Foto davon brauche ich auch nicht.

Mit dem Wind ... mal wieder unzählige, wunderschöne Fotomotive auf meinem Arbeitsweg entdeckt. Der Raps vor blauem Himmel, am Horizont das Achterwasser mit vereinzelten Segelbooten, das Reh beim Morgensnack auf der Wiese: Einfach herrlich! Da kann man die Maler verstehen, die in vergangenen Jahrhunderten ganze Tage und Wochen vor der Staffelei verbrachten, um die Schönheit der Natur auf ihre Leinwände zu bannen. Es soll sie ja auch noch heute geben: Menschen, die versuchen, Gottes Schöpfung und ihre Sicht auf diese mit Pinsel und Öl- oder Aquarellfarben abzubilden. Die sind allerdings seit der Erfindung der Fotografie rein zahlenmäßig ordentlich ins Hintertreffen geraten.https://strato-editor.com/.cm4all/widgetres.php/com.cm4all.wdn.Separatingline/images/thumbnail.svg

In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann die konsequente Entwicklung der modernen Fotografie. Fotos wurden zumeist in Ateliers von ausgebildeten Fotografen angefertigt. Deren Ausrüstung war unhandlich und wenig transportfreundlich. Zunächst war auch jedes Bild noch ein Unikat und natürlich ausschließlich schwarzweiß. Keine Konkurrenz also für die farbenfrohen Aquarelle der malenden Zunft.
Schon bald waren illustrierende Fotografien aus Zeitungen und Zeitschriften allerdings nicht mehr wegzudenken. Aber erst nach 1945 kann man von einer zunehmenden Verbreitung der Farbfotografie im Bereich der Printmedien reden.
Freizeit- und Hobbyfotografen quälte aber noch in den 80ern des vorigen Jahrhunderts aus heutiger Sicht vor allem ein Problem: Sofern sie sich keine „Dunkelkammer“ eingerichtet hatten und dort ihre Filme in Eigenregie entwickeln konnten, mussten sie diese an ein „Foto-Labor“ schicken. Das war teuer. Und es dauerte mitunter bis zu zwei Wochen – gerade nach den Sommerferien, wenn in den Laboren Hochbetrieb herrschte – bis man das Ergebnis seiner Fotokunst nach Hause geliefert bekam. Oft konnte man dann nur missmutig konstatieren, dass der Eifelturm (bei Nacht fotografiert) nur aus drei verschwommenen Lichtreflexen bestand, der Giraffe, die vorbildlich im Zoo Modell gestanden hatte, der Kopf fehlte oder das Hochzeitspaar beim „Sie-dürfen-die-Braut-jetzt-küssen-Moment“ viel zu wild knutschte und dadurch nur unscharf und völlig verwackelt für die Ewigkeit festgehalten worden war. Nachbessern oder Bearbeiten? Nicht möglich!
Ich erinnere mich noch gut an schweißnasse Finger beim Öffnen der Kuverts aus dem Fotolabor. Auf einem Film mit 24 oder 36 Bildern gab es immer eine Reihe von „Wackelkandidaten“ mit Überraschungsgarantie. Die Mimik der fotografierten Personen? Reine Glückssache! Was einem da an Grimassen, geschlossenen Augen und ähnlichen Überraschungen entgegenstrahlte, war manchmal schon abenteuerlich. Aus diesem Grund gab es bei mir übrigens eine eiserne Regel: Briefe vom Fotolabor wurden nur unter Ausschluss der familiären Öffentlichkeit geöffnet. Dann konnte man schon mal vor- oder gleich aussortieren.
Und heute? Durch den Siegeszug der Digitalisierung und die Quantensprünge im Bereich der Kameratechnik auf dem Smartphone ist der klassische Fotoapparat im Bereich der Alltags- und Hobbyfotografie ein längst überholtes Auslaufmodell. Unhandlich, schwer, unpraktisch! Die Dinger werden nur noch von Profis oder besonders ambitionierten Fotoamateuren genutzt.
Apropos Amateur: Ein Maler braucht Farben, Pinsel, Leinwände, muss sich die Technik aneignen, viel Lern- und Übungszeit investieren und sollte vielleicht auch über ein Quäntchen Talent verfügen. Auch der Beruf des Fotografen setzte früher eine profunde Ausbildung voraus.
Und heute? Wer braucht zum Knipsen denn noch eine Ausbildung? Belichtung, Verschlusszeit, Fokussierung, Tiefenschärfe und bald vielleicht sogar die Motivsuche – das erledigt alles die Kamera des Smartphones. Nur auslösen – oder wie man das heute auch nennen mag – muss der Benutzer oder die Benutzerin noch. Und wenn das Bild trotz aller verbauten technischen Hilfsmittel misslingt? Dann hat man eine unendliche Anzahl weiterer Versuche frei. Zumindest solange das Motiv nicht wegläuft oder meutert. Ergebniskontrolle sofort in der App. Und kosten tut die Bilderflut keinen Cent.
Manchmal – oder eigentlich fast immer – entspricht das Fotoresultat aber nicht unseren Vorstellungen, die abgebildete Realität nicht dem, was wir sehen beziehungsweise für eine mittlere Ewigkeit festhalten wollen. Auch dafür hat der technische Fortschritt in den vergangenen Jahren ein Hilfsmittel – genannt Bildbearbeitung – etabliert. Früher vor allem der Werbefotografie vorbehalten, verfügt inzwischen jedes bessere Smartphone über eine Fülle von Möglichkeiten, die Welt so abzubilden, wie sie ihrem Nutzer gefällt.
Es regnet im Sommerurlaub? Wir verändern Brillanz, Farbton, Sättigung, Kontrast oder wählen gleich einen Vorschlag aus der Foto-App. Regen? Grau? Nicht mit uns!
Der Schnee fehlt im Skiurlaub? Kein Problem. Den ergänzen wir gekonnt, und die tristgraue Berglandschaft wird zum Winter-Wonderland.
Die Bikinibräune ist (mangels Sonne) ausgefallen oder (durch zu viel Sonne) von Braun in ein knalliges Rot mutiert? Dann wird farblich nachgearbeitet. Für den Gruseleffekt wäre auch eine blaugraue Hautfärbung möglich …
Und mal ehrlich: Wer freut sich nicht, wenn auf dem neuen Passfoto weder entstellende Pickel noch unschöne Augenränder oder Falten zu sehen sind.  Wegretuschiert, geglättet, ausradiert! Es ist einfach soooo verlockend, sich die Welt „schön zu bearbeiten“!
Und das Ergebnis dieser geschönten Welt? Manchen Menschen erscheint die Realität nur noch grau und farblos. Der blaue Himmel? „Also im Prospekt war das Blau viel blauer!“ Das Roggenfeld mit Klatschmohn und Kornblume? „Die Kontraste könnten aber schon deutlicher sein!“ „War das vorhin im Restaurant wirklich diese bekannte Schauspielerin am Nebentisch? Die hätte ich nie erkannt. Sah ja total fertig aus, die Alte!“
Wir leben vielfach in einer verkitschten auf Hochglanz polierten Scheinwelt, und alle gut gemeinten Versuche einer postulierten „neuen Natürlichkeit“ haben gegen den Mainstream keine Chance. Glattgestylte, wegtypisierte und „optimierte“ Schaufenstermenschen oder unnatürlich aufpolierte Landschaften. Dafür braucht es weder Schönheits-OPs noch Landschaftsarchitekten. Mit dem Bildbearbeitungsprogramm unseres Smartphones haben wir die Möglichkeit, tatsächlich ein klein wenig Gott zu spielen. Und vielleicht macht das den eigentlichen Reiz aus?
Dass dabei jede Individualität auf der Strecke bleibt, spielt keine Rolle. Wir kriegen es besser hin, als die Natur oder irgendein Gott! Zumindest in der virtuellen Welt. Nur die Diskrepanz zwischen unserer geschönten, heilen, aufgebübscht-unnatürlichen Fantasiewelt und der Realität, die bekommen wir nicht einfach wegretuschiert. Zum Glück!
Vielleicht schaffen Sie es, in diesem Sommerurlaub auf einen Foto-Filter zu verzichten, die Einstellung „satte Farben“ zu deaktivieren, Mensch und Natur in ihrer ganz eigenen Schönheit abzubilden. Oder Sie lassen das Fotografieren gleich ganz sein und genießen die Natur und den Moment „live und in Farbe“. Das klingt jetzt vielleicht gewöhnungsbedürftig, aber ich verspreche Ihnen: Ihre Sicht auf die Welt wird sich ändern. Denn die, davon bin ich überzeugt, hat in ihrer Einzigartigkeit weder Filter noch Bildbearbeitung nötig.

Mit dem Wind ... ist nicht viel los, in unserem kleinen Hinterhof in Wolgast. Zum Glück! Eine hohe Backsteinmauer sorgt dafür, dass es dort auch bei stürmischem Wetter fast windstill bleibt. An heißen Sommertagen vermisst man zwar ein kühlendes Lüftchen, aber gerade im Frühjahr, wenn man sich besonders an der Küste auf die ersten wärmenden Sonnenstrahlen freut, wird man auf unserem Hof schon fündig.
Das weiß wohl auch das Amselpärchen zu schätzen, das seit vielen Jahren im dichten Efeu, das fast die gesamte Mauer bedeckt, sein Brutgeschäft verrichtet.
Jedes Frühjahr warten wir schon auf ihn, den Amselhahn. Er ist immer der erste, der eintrifft und gewissenhaft die Tauglichkeit unseres Hofes als Nistplatz prüft. Das macht er gründlich und arbeitet dabei bestimmt seine persönliche Checkliste ab. Oder hat ihm die das Weibchen mitgegeben? Frauen sind da ja manchmal etwas besser organisiert: Alles noch wie im letzten Jahr? Das Efeu im Herbst nicht zu stark gekürzt und der Hof weiterhin „katzensicher“? Bademöglichkeit im Weinfass bereitgestellt? Keine störenden Nachbarn wie etwa lärmige Spatzen oder hektische Meisen? So, oder so ähnlich läuft der Check wohl ab.
Als nächstes sucht der zukünftige Vater einer Horde von Amseljungspunden das Efeu nach einem ruhigen und komfortablen Plätzchen für das Brutgeschäft ab. Seine Partnerin ist da scheinbar anspruchsvoll. Ja und dann warten wir alle gespannt darauf, also der Amselhahn und wir, dass seine Lady eintrifft und mit dem Nistplatz auch in diesem Jahr einverstanden ist.
Amseln, so habe ich inzwischen gelernt, leben in der Regel monogam. Das gilt vor allem für Paare, die auch den Winter in unseren Breiten verbringen. Seltener für „Zug-Amseln“. Ist ja irgendwie auch klar. Auf längeren Reisen geht der Partner schon mal leichter verloren als auf der heimischen Couch. Wir kennen das. Meine Frau und ich schaffen es regelmäßig, uns schon im Kaufhaus aus den Augen zu verlieren.
Unsere beiden Amseln scheinen allerdings eines der seltenen Paare zu sein, das sich, nach einem Solo-Winter irgendwo im Süden, jedes Jahr auf Neue zur gemeinsamen Brutsaison in Wolgast einfindet. Ich stelle mir den jährlichen Abschied im Spätsommer ungefähr wie folgt vor: „Schatz, sehen uns nächstes Jahr in Wolgast?“ „Sicher, Liebling. Wie jedes Jahr. Mach dir einen schönen Winter in Palermo!“ „Und du, pass auf dich auf!“ Dann noch ein schnelles Amsel-turtel-Abschiedsküsschen und los geht’s.
Wie romantisch!!!! Und was für eine Freude, wenn die heiß erwartete Dame im Frühling tatsächlich eintrifft, zunächst skeptisch die Location inspiziert, sich etwas ziert und schließlich doch dem Charme ihres Göttergatten und der altbewährten Honeymoon-Suite in unserem Efeu erliegt.
Und dann? Dann ist es erst einmal ziemlich ruhig auf unserem Hof. Bis nach ca. 14 Tagen der sprunghaft ansteigende Amselflugverkehr anzeigt, dass sich hungriger Nachwuchs im Nest befindet. Und wenig später hocken schon die zerzausten, noch etwas unbeholfenen Ästlinge laut rufend im Hof, auf der Regentonne oder einem der Äste unseres Haselnussbaums.
Es vergeht kein Tag im Frühjahr, an dem wir nicht einen oder auch mehrere Blicke in unseren Hof werfen. Zunächst in ängstlicher Erwartung: Kommen sie wieder? Haben wir den Hof auch „brutfertig“ hergerichtet? Und dann mit der Freude der stillen Beobachter an der Entstehung neuen Lebens, und der - wenn auch passiven - Teilhabe an einem Schnelldurchlauf von Geburt über Kindheit bis hin zur Selbstständigkeit und zum Loslassen.
Aber warum diese Freude, dieses „Warm-ums-Herz-sein“? Und ist das überhaupt erlaubt, während Millionen Kinder auf unserer Welt hungern und verhungern, Kriege unzählige Hoffnungen und Existenzen vernichten oder - etwas näher an unserem direkten Lebensumfeld - häusliche Gewalt, Missbrauch und Kinderarmut für viele Menschen schrecklicher Alltag sind? Fällt mir nichts Besseres ein, als mich über eine Banalität wie das Brutgeschäft meines Amselpärchens zu freuen - und damit nicht genug - auch noch darüber zu schreiben?!
Und nicht zuletzt: Wie kann ich das gesamte Grauen, das uns umgibt, das uns täglich, stündlich, minütlich bei jeder Berührung unseres Smartphones, dem Hochfahren des Computers, dem Anschalten des Fernsehers in den Augen brennt, im Ohr liegt, das Herz zerreißt so einfach ausblenden?
„Amsel-Watching“ auf dem Hinterhof! Was für eine nutzlose, bescheuerte Zeitverschwendung! Die Welt versinkt in Chaos, Gewalt oder auch der Pol-Schmelze und ich sorge, kümmere und erfreue mich an ein paar Amseln. Ist das erlaubt? Ist das human? Ist das christlich?
Auf diese ganzen Fragen und möglicherweise auch Selbstvorwürfe gibt es in meinen Augen nur eine Antwort: Selbstverständlich!
Wir dürfen uns über Kleinigkeiten freuen, uns um scheinbar Belangloses kümmern. Wir sollten uns viel öfter Zeit nehmen, zum Glücklichsein. Wir brauchen Momente, in denen wir keine Entscheidungen treffen müssen, sondern einfach nur zuschauen, genießen und uns mitfreuen können. Momente fürs Herz! Und das alles ohne jeden Anflug vonschlechtem Gewissen!
Der Alltag, die Welt außerhalb unseres beschaulichen Hinterhofs, holt uns ganz von selbst wieder ein. Dauerhaft lässt die sich nämlich nicht ausblenden, und das ist auch gar nicht nötig. Aber gestärkt durch die Kraft, die Ruhe und Liebe, die wir aus solchen Momenten auf unserem persönlichen Hinterhof mitbringen, sind wir ihr besser gewachsen, der Welt. Und weiter: Wir haben dann etwas einzubringen, das manchmal viel wirksamer ist als Feuereifer, Tatendrang und Aktionismus. Es ist die Freude über diese wunderbare Schöpfung, in der wir das Glück haben zu leben. Und aus dieser Freude entsteht Liebe. Und Liebe versetzt bekanntlich Berge! Was können wir also Besseres tun, als im Wonnemonat Mai nicht nur Sonne, sondern ganz viel Liebe zu tanken?

Mit dem Wind ... mal wieder in einer Sackgasse gelandet! Also nicht in einer offiziell ausgeschilderten. Eher in einer materialbedingten. Das passiert mir in der Regel immer dann, wenn ich neue Radwege ausprobiere, die mir mein Hightech-Fahrradcomputer vollmundig vorschlägt.

Ein nagelneuer, asphaltierter Radweg verwandelt sich nach wenigen Kilometern in eine schlaglochgespickte Buckelpiste, einen Plattenweg oder auch gleich in einen Feldweg. Befahrbarkeit mit 25mm Rennradreifen? Kannste vergessen! Entweder heißt es dann „Bitte wenden!“ oder ich steige ab, schiebe und hoffe – in der Regel vergeblich – darauf, dass der Weg wieder besser wird. Stellen Sie sich nur mal analog eine Autobahn vor, die sich ohne Vorwarnung in einen Wirtschaftsweg verwandelt. Undenkbar!
Meinem persönlichen Grusel-Favoriten dieser ganz speziellen Sackgassenvariante bin ich vor einigen Jahren auf einem gut ausgebauten Radweg, kurz hinter Löwenberg begegnet: Mit Tempo 30 ging es durch den Wald in eine Abfahrt, deren Ende nur schlecht zu erkennen war. Also lieber nicht noch schneller werden. War auch besser so. Die Gefällstrecke endete abrupt in einer 90° Linkskurve, während gleichzeitig der Asphalt durch schlammigen Waldboden ersetzt wurde. Nur der unverzügliche Einsatz aller verfügbaren Bremsmittel ohne Rücksicht auf Materialverschleiß und Schuhwerk verhinderte das Schlimmste.
Während ich mich sortierte, das Vorderrad aus dem Matsch zog, natürlich kräftig fluchte und gleichzeitig meinem Schutzengel und dem Heiligen Christophorus für ihren Einsatz dankte, fragte ich mich, welcher Schreibtischtäter oder Radler-Hasser für diese Schlamperei verantwortlich war. Die Antwort? Blieb natürlich aus.
Es gibt da aber auch die selbstgewählten Sackgassen. Neulich erst war ich auf einer nagelneu asphaltierten, bestens ausgebauten Straße unterwegs, an der – völlig überraschend –  knapp 800 Meter vor der von mir avisierten Badestelle ein blaues „T-Schild“ am Straßenrand auftauchte. Sackgasse? Hier? So kurz vor dem Ziel? Das konnten die doch nicht ernst meinen! Außerdem kommt man mit dem Rad doch fast überall durch. Notfalls wird die letzten Meter auch ausnahmsweise mal geschoben. Umkehren? Keine Alternative! Oder doch? Der 4 Meter breite Stichkanal am Ende der Sackgasse war definitiv ein unbezwingbarer Endgegner.
Sie kennen beide Stichstraßen-Varianten aus Ihrem Leben: Die Sackgassen, die „unbeschildert“ und ohne Vorwarnung aus dem Nichts auftauchen, wenn das Leben gerade so richtig Fahrt aufgenommen hat. Aber auch die gut beschilderten Holzwege, an deren rechtzeitig angekündigtem Ende wir versuchen, oft wider besseres Wissen, mit dem Kopf durch die Wand einen Durchbruch zu erzwingen.
Sackgassen gehören zu unserem Leben – wie Umwege, steile oder schlecht gesicherte Pfade aber auch Hochgeschwindigkeitsabschnitte mit Sonnenschein und Panoramaausblick.
Aber all diese Wege und Straßen sind nur Randerscheinungen, Umwege, Abzweigungen oder Nebenstraßen. Als Menschen befinden wir uns nämlich von Geburt an auf einer Einbahnstraße. Jetzt bitte nicht erschrecken! Diese Variante der Fahrbahnführung ist zwar im Straßenverkehr mindestens so unbeliebt wie die Sackgasse, hat aber einen entscheidenden Vorteil: Umkehren ist nicht nötig, weil nicht möglich.
Während für den bekennenden Atheisten der Lebensweg, beginnend mit der Geburt und endend mit dem Tod, tatsächlich eine Kombination aus Einbahnstraße und abschließender Sackgasse ist, sieht die Perspektive für die Angehörigen fast aller großen Weltreligionen ganz anders, ich würde sagen erfreulicher, aus.
Wir Christen zum Beispiel holpern, gleiten, stolpern und galoppieren auf unserer Lebens-Einbahnstraße, testen die ein oder andere Abzweigung, bleiben öfter mal in einem Schlagloch stecken, überholen und werden überholt und landen auch hin und wieder in einer Sackgasse.
Aber ein unsichtbarer Sog, ein Staubsauger des Glaubens, zieht uns regelmäßig auf unsere Einbahnstraße zurück, rettet uns aus besonders tiefen Schlaglöchern, richtet uns auf und bringt uns auf den richtigen Kurs.
Unser Leben ist nämlich gerade keine Sackgasse, sondern eine Einbahnstraße, deren fantastisches Ende wir nur erahnen können. Die Mauer des Todes? Da hüpfen wir drüber! Leicht wie eine Feder und dann? Dann ist Auferstehung. Dann ist Ostern!
Aber was hat denn nun das Osterhasenbild – oder ist es etwa ein Kaninchen? - mit dem Inhalt der Kolumne zu tun? Ganz ehrlich: Nix! 

Mit dem Wind ... beginnt im März so langsam wieder die Zeit des morgendlichen Durchblicks. Für mich als Radfahrer, wie auch für die Rehe, die in den dunklen Monaten des Jahres immer mal wieder unvermittelt vor meinem Rad auftauchen.

Wildunfall mit dem Rad ist quatsch? Nee, nee! Den Hund zwischen den Speichen oder an der Hacke kennt fast jeder, der regelmäßig mit dem Rad unterwegs ist. Aber auch die lieben Rehlein warten in der Dunkelheit nicht unbedingt geduldig am Wegesrand, bis ein schlecht ausgeleuchtetes Zweirad an ihnen vorbeigerauscht ist. Und während beim Duell Auto gegen Reh die Sache für das Reh meist deutlich schlechter als für das Fahrzeug endet, treffen bei der Begegnung von Reh und Rad zwei durchaus gleichstarke Kontrahenten aufeinander. Ausgang des Duells? Ungewiss!
Aber jetzt wollen wir in diesem wunderbaren Vorfrühling mal nicht an die dunklen Wintermonate und deren mögliche Gefahren denken. Die Rehe sind wieder sicher – zumindest vor mir und meinem Rad – und meine allmorgendlichen Begleiter auf dem Weg zur Arbeit.
Neulich graste friedlich ein ansehnlicher Sprung Rehe nur wenige Meter neben meinem Radweg auf dem freien Feld. Mit dem Frieden war es natürlich vorbei, als ich mich mit meinem klapprigen Drahtesel näherte. Die Rehe machten sich eilends vom Acker. Alle, bis auf eines. Das graste seelenruhig weiter, während die anderen Rehe in gebührender Entfernung verharrten und die Szenerie beobachteten: Hier der tiefenentspannte Kollege, der sich nicht bei der Nahrungsaufnahme stören ließ, und dort die heranbrausende Gefahr auf zwei Rädern. Man sah den Tieren die Irritation förmlich an.
Und auch ich begann zu überlegen: War dieses einzelne Reh einfach taub und blind, sodass es weder die Gefahr noch die flüchtenden Kollegen registrierte? Oder war sein Hunger größer, als die Angst? Litt es eventuell an galoppierender Selbstüberschätzung, war es besonders mutig, oder einfach ein notorischer Querdenker und Ignorant? Ja, oder handelte es sich hier vielleicht um ein besonders schlaues Reh, quasi einen „Reh-Einstein“ oder ein „Marie Curie-Reh“, das selbstverständlich wusste, dass ich auf meinem Rad keine Gefahr darstellte?
Eine Antwort auf all diese Fragen? Die muss ich Ihnen schuldig bleiben. Das Reh hat nämlich nur gefressen, nicht geredet. Ein sprechendes Reh wäre dann wahrscheinlich ein noch größeres Mysterium gewesen – für mich, aber bestimmt auch für seine Kollegen. Vielleicht hätte es mir ja gern erzählt, warum es stehengeblieben war. Aber mit vollem Mund …
Gibt es sie nicht auch, in Ihrem Sprung, in Ihrer Herde, in ihrem Bekanntenkreis - diese eigenwilligen Rehe? Sicher finden sich da so einige! Und manchmal nerven die ganz gewaltig, mit ihren Extratouren, ihrem unkonventionellen Verhalten, ihren absurden Aktionen und Reaktionen. Und trotzdem wäre das Leben, ganz ohne solche Exoten, in vieler Hinsicht langweiliger, farb- und freudloser.
Ja und die ein oder andere Erfindung, Entdeckung oder geniale Idee verdankt ihnen die Menschheit auch, diesen Spinnern und Sonderlingen, die oft im Umgang so richtig anstrengend sind, die sich nicht anpassen wollen, die immer und stets gegen den Strom schwimmen.
Jesus war im Übrigen auch einer von diesen Spinnern. Ein richtiger Oberspinner, wenn man die meisten seiner Zeitgenossen gefragt hätte. Da waren sich Juden und Römer tatsächlich mal ziemlich einig. Und gleichzeitig ist dieser Jesus ein ausgesprochen repräsentatives Beispiel dafür, dass die Anerkennung von genialen Sonderlingen und deren Leistung oft erst posthum erfolgt.
Mich irritiert immer wieder, dass gerade unsere Kirche, deren Existenz auf einer so eigenwilligen Figur wie Jesus Christus fußt, auch nach Jahrhunderten so wenig Verständnis für kreative Köpfe in und außerhalb der eigenen Reihen hatte und hat. Leonardo Da Vinci, Giordano Bruno, Galileo Galilei oder auch Charles Darwin – die Reihe ließe sich endlos fortsetzen – waren vielleicht keine angenehmen Zeitgenossen, Exoten und bestimmt nicht angepasst. Aber wo stünden wir heute ohne ihre Gedankenexperimente und Entdeckungen?
Vielleicht sollten wir die Fastenzeit in diesem Jahr einmal dazu nutzen, etwas sparsamer mit unseren Vorverurteilungen zu sein. Nicht gleich alles, was uns auf den ersten Blick sonderbar oder obskur erscheint, mit Stumpf und Stiel ausrotten oder zumindest in eine Schublade, ganz weit unten im Schreibtisch stopfen zu wollen.
Zwar ist nicht jeder Spinner, der uns begegnet, genial. Einzelne sind auf den zweiten Blick sogar richtig gefährlich. Aber wir – ich zitiere hier mal meine Oma – müssen die ja auch nicht gleich heiraten! Und für all diejenigen, denen genau das passiert ist: Sie lieben doch ihren Spinner oder ihre Spinnerin! Da bin ich mir sicher!

Mit dem Wind ... gehen die Lichter aus! Kurz nach Weihnachten beginnt alljährlich das kollektive „Lichtersterben“. Den Anfang macht – wahrscheinlich nicht ganz freiwillig – der Weihnachtsbaum, der noch vor Silvester „entschmückt“ wird, um Platz für die Jahresabschlussparty zu schaffen. Weiter geht es dann meist in der zweiten Januarwoche. Nachdem die Stadtbediensteten die Wege und Plätze von den Überresten der Silvesterfeierlichkeiten befreit haben, nehmen sie sich die Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen und an öffentlichen Gebäuden vor. Die wird fein säuberlich abgebaut und bis zum nächsten Jahr warm und trocken im Depot eingelagert.https://strato-editor.com/.cm4all/widgetres.php/com.cm4all.wdn.Separatingline/images/thumbnail.svg

Auch in vielen Kirchen werden Weihnachtsbaum und Krippe schon kurz nach der Ankunft der Heiligen drei Könige am 6. Januar demontiert. Den gekrönten Häuptern bleibt oft nicht einmal die Zeit, ihre Geschenke auszupacken, bevor sie – wenig königlich – wieder für ein Jahr im Karton versenkt werden. Vergessen ist vielerorts der Brauch, die Krippe erst nach Maria Lichtmess am 2. Februar abzubauen und so den drei Weisen aus dem Morgenland nach ihrer langen Reise hin zur Krippe eine kleine Weile der Erholung und Kontemplation zu gönnen.
Aber nicht nur in den Kirchen und im öffentlichen Raum, geht die Umstellung von Weihnachten auf Alltag recht fix. Wenn ich im Januar auf meinem Rad durch die noch morgendunklen Straßen radle, dann kann ich gut mitverfolgen, wie nach und nach die Lichter der Weihnachtsbeleuchtungen verlöschen. Ein erster großer Schwung verschwindet bereits vor dem 1. Januar. Das betrifft vor allem die besonders aufwändig geschmückten „Weihnachtshäuser“, die mit blinkenden Rentierschlitten, schornsteinerklimmenden Weihnachtsmännern und tausenden von Lichterketten bestimmt auch jede Menge Strom verschlingen.
Als nächstes trifft es die Herrnhuter Sterne über den Hauseingängen, bevor es dann den Weihnachtsbaumbeleuchtungen, die den ein oder anderen Tannenbaum im Vorgarten schmücken, an die elektrischen Kerzen geht. Ja, und ganz zum Schluss verlöschen schließlich auch die kleinen Lichterketten oder Schwibbögen aus dem Erzgebirge auf den Fensterbänken der Wohnungen und Häuser. Dann ist er wohl endgültig vorbei, der Lichterglanz der Advents- und Weihnachtszeit.
Irgendwann reicht‘s ja auch mal, werden Sie sagen. Alles hat seine Zeit! Schließlich beginnt im Februar schon die Fastenzeit und dann dauert es nur noch sieben Wochen, bis der Osterhase durch den Vorgarten hoppelt. Der wäre wahrscheinlich ziemlich erstaunt, wenn er dort noch auf Rudolph mit seiner roten Blink-Nase treffen würde.
Aber mal ehrlich: Solange es morgens noch nicht hell, oder abends so früh dunkel ist finde ich es eigentlich schön, wenn mir der ein oder anderen Lichterbogen aus dem Fenster entgegenstrahlt. Auch der Februar verträgt doch eine Zusatzbeleuchtung, die das natürliche Grau dieses Monats ein wenig aufhellt!
In Skandinavien, wo das Winterdunkel sich noch viel länger hält als bei uns, werden die Weihnachtslichter oft erst zu Ostern abgebaut. Hauptsache ein Licht, das die Dunkelheit durchbricht! Nun gut, mag sein, dass das Abbauen der Weihnachtsbeleuchtung im Außenbereich bei Temperaturen im zweistelligen Minusbereich und absoluter Dunkelheit aufgrund der extrem kurzen skandinavischen Wintertage auch keine Freude bereitet. Aus diesem Grund ist es dort in manchen Gegenden gar nicht unüblich, die Beleuchtung einfach das ganze Jahr am Baum zu belassen. Seine Nadeln trägt der ja auch ganzjährig, und unbeleuchtet fällt die Lichterkette im dichten Tannengrün doch gar nicht auf.
Ein Trend übrigens, denn ich zunehmend auch in unseren Gefilden beobachte. Sie glauben mir nicht? Denken, dass im „ordentlichen Deutschland“ so eine Schlamperei nicht vorkommen kann? Schauen Sie einfach mal genau hin. Ich verspreche Ihnen: Sie werden fündig!
Aber ist das wirklich Faulheit? Ich würde es lieber Pragmatismus nennen: Nicht mehr die alljährlich Suche nach der Beleuchtung, der Zeitschaltuhr oder der Verlängerungsschnur. Keine halb erfrorenen Finger verrenkten Gliedmaße und abgeknickten Äste beim Anbringen und der Demontage. Ja und auch kein Zank darüber, dass oder ob die Beleuchtung im letzten Jahr nicht viel besser ausgesehen hat. Einfach Stecker rein und fertig! Da bleibt doch auch viel mehr Zeit für all die wichtigen anderen Vorbereitungen in der Vorweihnachtszeit!
Und wenn die Weihnachtssehnsucht an einem nassgrauen Novemberabend allzu groß wird, wenn ein Tag, vielleicht auch mitten im Hochsommer, mal so richtig mies gelaufen ist  – dann einfach schnell mal den Stecker rein, den Baum zum Leuchten bringen und einen Glanzbooster, einen Hoffnungsschimmer, einen Stimmungsaufheller tanken.
Wenn ich die Weihnachtsbotschaft richtig verstanden habe, dann ist die auch nicht auf 3 Tage im Dezember, eine Woche oder einen Monat im Jahr beschränkt. „Es ist euch der Heiland geboren, Christus der Herr!“ Daran kann man sich gern auch den Rest des Jahres erinnern. Und wenn man dazu eine Weihnachtsbaumbeleuchtung im Garten braucht: Warum nicht? Erlaubt ist, was glücklich macht und hilft.
Zum Schluss mal ausnahmsweise aus dem Nähkästchen geplaudert: Es gab für mich in meiner Jugend nichts Schöneres, als in den Sommerferien bei meiner Oma, die restlichen Weihnachtsplätzchen zu verspeisen, die dort regelmäßig in einer großen Blechkiste auf mich warteten. Sooo lecker! Und ein bisschen Weihnachtsglanz, ein wenig Zimtgeruch, ein Hauch von Weihnachtsfreude tut manchmal einfach gut! Auch mitten im Hochsommer.

Mit dem Wind ... habe ich heute, wie fast jeden Morgen in den vergangenen Wochen, das letzte Blatt an der alten Eiche, am Ortseingang von Bannemin ins Visier genommen. Das hängt an einem dünnen Ast und trotzt seit Monaten dem alljährlichen Laubabwurf „seines“ Baumes. Die Laubträger rund herum - egal ob Birke, Kastanie oder Buche - kommen schon seit den frühen Novembertagen kahl und blattlos daher. Die alte Eiche aber hat lange um ihre letzten Blätter gekämpft, den Herbstwinden getrotzt und musste schließlich doch einsehen, dass gegen die Sturmgewalten kein Kraut oder Blatt gewachsen ist. Also fast keines. Denn das besagte Exemplar hängt auch heute, am dritten Tag des neuen Jahres, noch eisern und unverzagt in der Krone des Baumes.
Irgendwie erinnert mich die Beharrlichkeit dieses Winzlings im Geäst der Eiche an das kleine gallische Dorf, dessen Eroberung den Römern einfach nicht gelingen wollte. Vielleicht, so eine meiner Hypothesen, wird es von der Eiche klammheimlich mit Zaubertrank versorgt? Vielleicht ist es aber auch so unscheinbar, dass der Wind sich lieber um imposantere Projekte, wie das Abdecken von Dächern, das Umknicken von Bäumen oder zumindest das Umreißen schlecht befestigter Baustellenabsperrungen kümmert. Warum sich an einem einsamen, kleinen Blatt abarbeiten, wenn größere, eindrucksvollere Aufgaben locken?
So kurz nach Silvester kommt mir auf meinem weiteren Weg ein Gedanke: Geht es uns mit all den guten Vorsätzen zum Jahresbeginn nicht ähnlich, wie unseren Laubbäumen mit ihren Blättern im Herbst? Stolz tragen wir sie vor uns her, wie der Baum sein prächtiges Blätterkleid im Sommer. Sie bieten Raum für neue Ideen, sind Startrampe für Pläne und hochfliegende Gedanken. Die Sektlaune der Silvesterfeier trägt dazu bei, immer neue, noch großartigere Ideen zu entwickeln und diese mit Böllerknall und Feuerwerk zu besiegeln.
Doch oft verlieren diese guten Vorsätze ihren Silvesterglanz viel schneller als geplant, beginnen zu welken und fallen – mal völlig unbemerkt, ein andermal mit schlechtem Gewissen – aus der Krone des Silvester-Mammutbaumes hinab in die Pfütze des Alltäglichen. Was bleibt, von all den guten Plänen, heroischen Vorsätzen und Zielen aus der Neujahrsnacht, ist nicht selten weniger als nichts.
Im Prinzip ist das auch nicht schlimm. Denn würden wir tatsächlich alle unsere guten Vorsätze binnen Jahresfrist umsetzen – was bliebe dann noch übrig für die nächste Silvesterfeier?
Aber so ein guter Vorsatz, der bleibt, der sich festklammert, der durchhält, der allen Stürmen und Verlockungen des Alltags trotzt: Das wäre doch ein Erfolg!
Und hier kommt wieder das kleine Blatt ins Spiel. Im Sommer noch war es eines von unzähligen, versteckt in Dickicht der Baumkrone. Im Herbst, als die anderen Blätter erst einzeln und dann in großen, ungeordneten Haufen vom Baum fielen, da gehörte es einer kleinen Widerstandsgruppe an. Und seit dem letzten Wintersturm hält es allein aber eisern die Fahne hoch bzw. die Blattspitze in den Wind. Ich bin mir sicher, dass es durchhält. Bis zum Frühjahr, wenn neues, frisches Grün den Baum aus seiner tristen Zeit als blattloses Gerippe erlöst. Dann kann es beruhigt loslassen, mit einer lauen Frühlingsbrise sanft in Richtung Boden segeln und sich dort, von der warmen Frühlingssonne auf die strapazierte Haltemuskulatur massieren lassen.
Mit dem Durchhalten ist das so eine Sache. Es erfordert Kraft und Zuversicht, Ausdauer und einen festen Willen. Ja und manchmal auch Unterstützung, wenn die eigene Kraft nicht reicht, oder Zweifel auftauchen.  Und schließlich ist da auch immer ein Quäntchen Glück dabei, damit scheinbar Unvorstellbares tatsächlich gelingt.
Wenn wir uns auf das Wesentlich konzentrieren, uns nicht verzetteln oder uns zu viel abverlangen, dann schaffen wir oft mehr, als andere, ja als wir selbst uns zutrauen.
Wer möchte schon ein Blatt im Wind sein? Normalerweise. Aber dieses besondere Blatt, das ist für mich in diesem Jahr der Halt, wenn mein guter Vorsatz in schweres Wetter gerät, wenn Alltag, Inkonsequenz und nachlassendes Bemühen wie Winterstürme an ihm rütteln. Das Blatt und ich werden ihnen trotzen!

Mit dem Wind ... kam er nicht, der goldene Schwan. Eine Familie hat im letzten Sommer das riesige, luftgefüllte Tier mitgebracht. Mehr als einen Meter hoch ragte der Hals über den schwimmringartigen Körper des Schwans, den kleine, goldene Flossen im Wasser stabilisierten und ihn so vor dem Kentern bewahrten.

Beim Wettbewerb um das größte aufblasbare Gummitier der Insel hätte „Goldi“, so sein Spitzname, sicher den ersten Preis errungen. Auch in der Kategorie hässlichste Schwimmhilfe wäre ihm wahrscheinlich ein Platz auf dem Podium sicher gewesen. Aber beide Disziplinen waren den Besitzern völlig egal. Der Familie ging es gar nicht darum, besonders aufzufallen. Im Gegenteil. „Goldi“ erfüllte durch seine Größe nur einen Zweck: Er stellte für die 12jährige, schwerbehinderte Tochter der Familie die einzige Möglichkeit dar, das Wasser der Ostsee zu erobern und so gemeinsam mit ihrer Familie und den anderen Badegästen Strandurlaub und Badespaß zu genießen. Vom Rollstuhl trug Papa das Mädchen bis zum Schwan, der bereits im seichten Wasser wartete, seine Gummiflügel ausbreitete und – vielleicht war er sich seiner Bedeutung bewusst – stolz den Kopf in Richtung Sonne reckte. Und dann? Dann begann der Badespaß! Was auch sonst?
Die Tage vergingen und das Urlaubsende nahte. Am Abreisemorgen wurde ich zur Rezeption gerufen. Dort wartete die Familie, und dort hatte sich auch der goldene Schwan niedergelassen. „Dürfen wir den hierlassen?“, fragte mich die Mutter. „Er hat unserer Tochter viel Freude bereitet, aber zu Hause haben wir kein Meer und auch keinen See in der Nähe. Vielleicht freuen sich andere Familien über ihn.“ Ich schaute „Goldi“ tief in seine großen, freundlichen Augen und entdeckte dann erst den Aufkleber an seinem Hinterkopf. Mit einem wasserfesten Stift hatte die Familie auf die Klebefolie folgenden Satz geschrieben: ICH BIN FÜR ALLE!
Diesen anspruchsvollen Auftrag nahm unser goldener Schwan sehr ernst. Den ganzen Sommer über war er im Einsatz. Oft nahmen in Familien mit an den Strand. Einmal begleitete er sogar die jungen Erwachsenen der Exerzitiengruppe von „Surf an Soul“ bis nach Koserow und surfte am dortigen Strand durch die Wellen. Auch die Soldaten des Seelsorgekurses nahmen ihn mit an die Ostsee und leerten in der untergehenden Sonne das ein oder andere Bier auf sein Wohl. Ja und manchmal übernachtete der goldene Schwan auch an unserem Strandabschnitt, wenn müden Kinderarmen nach einem erlebnisreichen Strandtag die Kraft für den Rücktransport fehlte. Am nächsten Morgen begrüßte Goldi dann die neugierigen Möwen, schlaftrunkene Bernsteinsammler-Frühaufsteher oder – wenig später – die ersten Badegäste mit einem freundlichen: ICH BIN FÜR ALLE.
ICH BIN FÜR ALLE! Ist das nicht der Kern der Weihnachtsbotschaft? Genau das feiern wir doch an Weihnachten: Die Geburt Jesu, der für alle, ja für wirklich alle da war, da ist und immer da sein wird!
Wenn wir uns nur ein wenig an ihm orientieren, oder auch an unserem goldenen Schwan, wenn wir unsere Mitmenschen im Blick haben und vorurteilsfrei, unvoreingenommen und bedingungslos auf sie zugehen, dann ist Weihnachten. In unserem Tun, in unseren Herzen, auf der ganzen Welt!

Mit dem Wind ... unterwegs, am 9. Oktober. Von wegen „mit dem Wind“! Vorhergesagt war ein ordentlicher Südwind. Also bester Schiebewind auf meinem Weg zur Arbeit. Stattdessen blies er wieder einmal aus meiner „Lieblingswindrichtung“: Südost. 

Auf der kleinen Anhöhe hinter Wolgast hob ich kurz den Kopf, den ich zwischenzeitlich wie eine Schildkröte zwischen die Schulterblätter eingezogen hatte. Naseputzen! Und aus dem Augenwinkel sah ich den Vollmond, der rund und klar über der Peenewerft stand. Schön, da hatte ich wenigstens den Schuldigen für meinen gestörten Nachtschlaf ausgemacht: Vollmond! Na klar! Hätte ich mir ja denken können.
Und weiter ging es durch den eisigen Wind. Der Neeberger Weg lag vor mir, mit dem Blick über die Felder bis hinunter zum Achterwasser. Ein wolkenloser Himmel bereitet den Sonnenaufgang vor. Großer Auftritt! Und dann schob sie sich langsam über den Horizont, die Grand Dame des Tagesbeginns. Völlig unbeeindruckt von der Kälte.
Sonne müsste man halt sein. Dann hätte man es immer schön kuschelig!
So ein Sonnenaufgang geht im Übrigen ratzfatz. Noch ehe ich Krummin erreicht hatte – also zugegeben, mein Tempo wurde durch den Wind (Sie erinnern sich?) ziemlich reduziert – stand der runde Feuerball schon ein ganzes Stück über dem Horizont und strahlte mich an.
Aber was machte eigentlich der Vollmond, der faule Kerl? Hatte der sich schon zum Morgennickerchen verabschiedet? Ich schaute mich um. Nein! Der Mond ließ sich heute mal richtig Zeit mit dem Untergehen. Und so befand ich mich plötzlich mitten zwischen zwei riesigen, leuchtenden Himmelskörpern. Der eine fahl mit deutlich erkennbaren Mondkratern und leichtem Hang zur Schläfrigkeit, die andere so strahlend hell und schön, dass man auch mit Sonnenbrille auf der verkühlten Nase besser nicht genauer hinsah, um nicht geblendet zu werden. Und dazwischen ich: schnaufend, frierend, strampelnd.
Ja und dann war sie plötzlich da, die Erkenntnis: Alpha und Omega, Anfang und Ende. Und dazwischen wir, die wir uns in unserem begrenzten irdischen Dasein abstrampeln. Nicht am Anfang steht das Licht, die Sonne, sondern am Ende unseres Lebens. Ihr gehen – oder radeln – wir entgegen. Ein gutes Gefühl, so ein schönes Ziel vor Augen zu haben. Aber auch das „Woher“ hat seine Schönheit, seinen ganz besonderen Glanz. Geborgen zwischen Monduntergang und Sonnenaufgang. Wie geht es uns als Christen gut!
Und während ich weiter mit dem eisigen Südostwind kämpfte, den Blick immer wieder zwischen Sonne und Mond oder auch Mond und Sonne schweifen ließ, da wurde es mir doch tatsächlich wärmer. Nicht an den Fingern oder der roten Nasenspitze, aber im Herzen. Gab es da nicht dieses wunderbare Spiritual von 1927: "He's got the whole world in His hands" oder auf der Deutsch: „Gott hält die ganze Welt in seiner Hand“? Genau so habe ich mich gefühlt, an diesem Oktobermorgen. Geborgen in Gottes Hand, zwischen Alpha und Omega, in allen Stürmen des Lebens!

Mit dem Wind ... ist er schon wieder vorbei, der Sommer mit seinen langen, hellen Tagen voll von Sonnenschein, luftiger Kleidung und ausgelassener Urlaubsstimmung. Das Herbstgrau steht mit Regenjacke und Kapuze, Schal und wetterfesten Schuhen schon mit einem Gummistiefel in der Türe. Obwohl: Graue Miesepeter-Kleidung ist in der dunklen Jahreszeit eher nicht zu empfehlen. Die schlägt zusätzlich aufs Gemüt. Hell und bunt sollte die Herbstgarderobe daherkommen oder zumindest über den ein oder anderen leuchtenden Reflektor verfügen.

Ja und ans Rad gehört natürlich eine ordentliche Beleuchtung. Sehen und gesehen werden heißt die Devise, und dabei geht es in diesem Fall absolut nicht um persönliche Eitelkeiten, sondern ausschließlich ums Überleben.
Nun habe ich eigentlich gar nichts gegen den Herbst. Bunte Blätter und goldene Herbstsonne, weniger Autoverkehr, kürzere Tage und längere Abende, an denen man es sich mit Lesen, Klönen oder einem zünftigen Kartoffelfeuer wunderbar gemütlich machen kann. Was gibt es Schöneres, nach einer anstrengenden und oft hektischen Sommersaison?
Aber eine Sache stört mich doch am Herbst, am Winter und überhaupt an der dunklen Jahreszeit: Die Menschen werden unsichtbar! Also nicht, dass sich alle ab Oktober urplötzlich in Luft auflösen würden. Die sind schon noch da. Aber eben versteckt. In dicken Jacken, unter Mützen und Kapuzen, in Autos, Bahnen und Bussen. Und genau deshalb werden meine Mitmenschen so seltsam gesichtslos. Während mir im Sommer, auf meinem Weg zur Arbeit, gefühlt die halbe Insel – Schülerinnen und Schüler, die arbeitende Bevölkerung oder auch die „Lärchen“ unter unseren Urlaubern – radelnd und freundlich grüßend entgegenkommt, bin ich im Winterhalbjahr fast immer allein unterwegs. Und auch die Autofahrer, die im Sommer freundlich hinter ihren Windschutzscheiben lächeln oder winken – im herbstlichen Dunkel bleibt davon nichts als das Blendlicht der Scheinwerfer.
Gesichter, Lächeln, Gute-Laune-Morgenbooster? Fehlanzeige! Ja nicht einmal mehr die Rehe oder Vögel sind zu sehen. Denn glitzernde Reflektoren oder eine bunte Lichterkette für Fell und Federn haben sich in der Tierwelt bisher nicht durchgesetzt, sieht man mal vom blinkenden Halsband ab, dass sich Waldi oder Fiffi aber mit Sicherheit nicht selbst übergestreift hat.
Was bleibt mir also anderes übrig, als einsam durch das trübe Morgendunkel zu radeln? Motiviert und angetrieben einzig und allein von der Aussicht auf einen heißen, schwarzen Kaffee im Büro.
Es gibt allerdings noch eine andere Möglichkeit. So Vieles, was wir nicht sehen, ist doch trotzdem vorhanden. Unser Herz zum Beispiel. Das schlägt, wir fühlen es zwar manchmal, aber bei der Arbeit zuschauen können wir ihm bestenfalls mithilfe eines Ultraschallgeräts. Oder die Liebe eines Menschen. Klar, kann man versuchen, sie durch Gesten, Geschenke oder Worte auszudrücken und so ein klein wenig „sichtbarer“ zu machen. Aber das sind nur äußere Zeichen für ein Gefühl, das uns oft auch ganz ohne solch greifbare Verstärker über Jahre, ja im besten Fall Jahrzehnte oder auch ein ganzes Leben lang trägt.
Und schließlich Gott. Den haben wohl die wenigsten von uns schon mal persönlich getroffen. Das brauchen wir auch gar nicht. Wir glauben, nein, als Christen wissen wir, dass es ihn gibt. Das reicht, um uns sicher, geborgen und angenommen zu fühlen, mit ihm zu sprechen, ihn anzurufen und seine Stimme zu hören. Blickkontakt zu Gott? Überflüssig! Ist doch auch völlig egal, wie der aussieht. Hauptsache, er ist da. Und das ist gesetzt!
Die Menschen in den Autos, denen ich im Morgendunkel begegne, lächeln im Herbst und Winter vielleicht genauso freundlich, wie im Sommer. Nein, ganz bestimmt tun sie das! Auch wenn sicher an der ein oder anderen Stelle hinterm Steuer auch der Kopf geschüttelt wird, über diesen „Verrückten“, der da bei Wind und Wetter durch die Dunkelheit strampelt.
Wir sind so ungeheuer abhängig von äußeren Zeichen, von Symbolen, vom Sehen. Was wir nicht sehen, das ist nicht da, das gibt es einfach nicht. Im unsichtbaren Dunkel lauern ausschließlich Gefahren. Das haben wir so gelernt. Dabei wissen wir es eigentlich besser. Nur fehlt es uns oft an Mut, Glauben und nicht selten an einer positiven Lebenseinstellung.
Ich zumindest werde in den kommenden Monaten freundlich in die Autoscheinwerfer lächeln und mir ganz einfach vorstellen, wie aus der Fahrerkabine zurückgelächelt, gewunken und gegrüßt wird. Das motiviert! Auch im stärksten Südweststurm, im Hagelschauer, im Platzregen. Und dann wartet da im Büro ja auch noch der warme Kaffee …

Mit dem Wind ... mal eben schnell nach Afrika. Oder lieber doch nicht? Ganz schön weit weg von Usedom. Also mit dem Fahrrad meine ich. Aber auch mit dem Auto. Wenn ich an die Benzinpreise denke. Und das Flugzeug nehmen? Spätestens seit „flygskam“ als geflügelter Begriff die Runde macht, ist der Flieger eigentlich ein „No-Go“, was Umweltschutz und Nachhaltigkeit betrifft.

Was aber tun, wenn man von Fernweh und Urlaubssehnsucht heimgesucht wird? Ganz einfach: Man radelt an einem sommerlichen Abend von Trassenheide nach Mölschow, der untergehenden Sonne entgegen. Träumt von Elefanten und Giraffen, Affenbrotbäumen und weiten Steppen, schaut tiefenentspannt nach rechts und links und – befindet sich urplötzlich mitten im tiefsten Afrika! Rechts neben dem Radweg weiden, versteckt im hohen, trockenen Gras, beigefarbene Rinder. Die Kälber sind nur zu erahnen und die Herde strahlt eine schläfrige Ruhe aus. Aber was ist das, dort hinten im Gras?! Bewegt sich da nicht etwas zwischen den mannshohen Halmen? Lauert dort vielleicht ein Gepard oder gar ein Löwe, um sich ein saftiges Steak zum Abendbrot zu besorgen? „Lauft, ihr Kälbchen!“, möchte ich rufen, aber sehe im nächsten Augenblick den mächtigen Bullen der Herde durch das sich teilende Gras stapfen.
Uff! Noch mal gutgegangen! Mein Puls beruhigt sich langsam und jetzt entdecke ich auch den Zaun, der die Weide der Rinder begrenzt. Ist halt doch nur Usedom und nicht Afrika …
Aber der magische Moment hält noch eine Weile an. Ich schaue den Rindern zu, wie sie durchs hohe Gras streifen, verdränge alle Gedanken an Waldbrandstufe oder Klimawandel und genieße diese afrikanischen Minuten, mitten im Usedomer Sommer.
Zu Hause und doch ganz weit weg. Das klappt nicht immer. Eigentlich eher selten. Denn dazu braucht es Luft und Raum, den die Routinen des Alltags mit gnadenloser Konsequenz einengen. Vielleicht verreisen wir deshalb so gern, brechen aus und verlassen unsere sichere Weide, um Neues zu erleben und Ablenkung zu erfahren. Und dann? Nach einem kurzen Urlaub geht es zurück in unser persönliches Gefängnis aus Beruf, sozialen Verpflichtungen, belastenden Aufgaben und unerfüllten Erwartungen. Der Gefängniswärter ist streng und bestraft Verstöße gegen diese Ordnung mit schlechtem Gewissen, Schlafentzug und Selbstvorwürfen. Und der nächste Freigang liegt erschreckend weit in der Zukunft: Erst im Juli des kommenden Jahres steht der Jahresurlaub an. Bis dahin …
… bis dahin heißt es nicht „Tage zählen, Trübsal blasen und Kalenderblätter abreißen“, sondern immer mal wieder einen kleinen Ausbruch wagen: ins Theater, den Stadtpark, den nahen Wald, die Eisdiele um die Ecke, das Hallenbad mit Sauna, die Hunderunde oder auch die Radtour am Wochenende. Sie werden feststellen: Mit jedem Ausbruch wird die Mauer niedriger, werden die Gitterstäbe durchlässiger und selbst der strenge Gefängniswärter zeigt im Laufe der Zeit völlig unerwartete Züge von Milde und Gelassenheit.
Afrika liegt um die Ecke, der Nordpol hinter der nächsten Straßenkreuzung und die Karibik auf dem direkten Weg zur U-Bahn! Nehmen Sie sich die Zeit, auch im Alltag das Schöne, das Unerwartete zu entdecken! Lassen Sie die vielen wunderbaren Momente, Stunden, Tage und Wochen des Alltags nicht ungenutzt verstreichen, mit sinnlosem Warten auf scheinbar bessere. Schicken Sie ihren persönlichen Gefängniswärter in den Ruhestand, tragen Sie mutig die Jeans im Leopardenlook, pflanzen Sie einen Affenbrotbaum in den Blumentopf auf dem heimischen Fenstersims und träumen Sie unter der Dusche von fantastischen Korallenriffen. Das schont die Umwelt (wenn Sie es mit dem Duschen nicht übertreiben) und macht gute Laune! Und die bringen Sie dann im nächsten Sommer wieder mit, auf die schönste Urlaubsinsel der Ostsee!


Mit dem Wind ... kommt manchmal alles anders, als man das so geplant hat. Das trifft ausnahmsweise auch auf diese Kolumne zu, in der die kleine Lebensweisheit sonst regelmäßig am Ende zu finden ist.  „Der Mensch denkt, doch Gott lenkt“ – oder wie es, viel poetischer, im „Buch der Sprichwörter 16,9“ heißt: „Des Menschen Herz plant seinen Weg, doch der Herr lenkt seinen Schritt.“
Wenn das mal so einfach wäre! Das Steuer aus der Hand geben, spürbar die Kontrolle verlieren, die Planung scheinbar dem Zufall überlassen – was für Schreckensszenarien in unserem durchorganisierten Alltag, in dem schon der verspätete Bus bei manch einem für steigenden Blutdruck sorgt. Dabei sehnen sich das Herz und der ständig geforderte Geist doch danach, einfach mal „Fünfe gerade sein“ oder auch für eine Weile „die Seele baumeln“ zu lassen.
Für Christen kein Problem? Pustekuchen! Nur zu gern greifen wir Gott ins Steuer, weil wir doch ganz genaue Vorstellungen haben, in welchen Bahnen unser Leben verlaufen soll.
Und stört ihn das? Ich glaube kaum. Der liebe Gott ist doch längst autonom unterwegs und Instrumente wie Lenkung, Navi oder Kompass hatte er noch nie nötig, wenn es darum ging, uns sicher und zielgerichtet durchs Leben zu manövrieren. Nun gut, sein Ziel ist vielleicht nicht immer das von uns priorisierte, aber mit Sicherheit das allerbeste für uns. Soviel steht fest!
Aber jetzt zur Geschichte, die vor dieser Erkenntnis steht. Und die ist vielleicht etwas länger als sonst. Also eigentlich der Weg bis dahin, zur Erkenntnis – und nach Rügen. Denn dort geht es los. Und alle, die mit dem Radfahren nichts am Hut haben, die hören an dieser Stelle auf zu lesen, legen die Füße in der Hängematte hoch oder sich entspannt in die Sandburg und lassen Dreie, Viere oder auch gern Fünfe gerade sein.
Vätternrunde mit 315km zu lang, Bastad 198 abgesagt und deshalb spontan RügenRund als diesjährigen Radmarathon gebucht. 87km sind zwar im Grunde keine wirkliche Herausforderung, und selbst mit ordentlich Wind und diversen Hügeln müsste die Strecke in maximal 4 Stunden zu schaffen sein. Pessimistisch kalkuliert und eine halbstündige Mittagspause eingepreist. So also der Plan, als ich mich am 11. Juni auf nach Selin zum Start machte.
Dort erwartete mich, neben erstaunlich wenig Wind und angenehmen Temperaturen, ein mehr als überschaubares Häuflein von 24 Radlerinnen und Radlern. Also die warteten nicht auf mich, sondern hatten sich um einen kleinen Stand geschart, an dem es vor dem Start Kaffee und Kuchen für die Teilnehmenden gab.
Ein Blick auf das Teilnehmerfeld löste leichte Irritation bei mir aus. Der Altersschnitt lag bei geschätzten 70 Jahren. Ein weiterer Blick fiel auf die Rennräder – und ich war froh, das Modell mit Scheibenbremsen und modernster Technik zu Hause gelassen zu haben. Immerhin hatten die mitgebrachten Drahtesel dieser Rentnergruppe Rennlenker und keine Motorisierung. Aber wollten sich die Senioren tatsächlich gleich zügig auf eine so lange Strecke begeben? Wo stand bitteschön der Krankenwagen, der hier als Begleitfahrzeug sicher unerlässlich war?
Mit solchen und ähnlichen Überlegungen schob ich mir noch schnell zwei Stücke des köstlichen Kuchens („Heute zur Premiere for free!“) in den Mund, rechnete mir dabei gute Chancen auf einen Podiumsplatz aus und stellte mich in den Startkorridor. Das Startsignal gab Olaf Ludwig, Olympiasieger von 1988 und mehrfacher Etappensieger bei der Tour de France. Und es hatte mich schon etwas irritiert, dass er einen großen Teil der Teilnehmenden kannte und persönlich begrüßte. Waren das vielleicht alles Wölfe im Schafspelz? Misstrauisch sah ich mich um. „Bis zum Kreisverkehr fährt die Polizei voraus. Tempo 30, damit wir nicht zu schnell anfahren“, rief Ludwig noch, und bevor ich diese Information richtig verdaut hatte, setzte sich der Tross zügig in Bewegung. Munter quatschend nahmen die Alten Tempo auf und ich hatte Mühe, auf meinem modernen Edelrenner nicht den Anschluss zu verlieren.
Aber egal. Wenn die mich mitzogen, dann war vielleicht auch eine Zeit von unter drei Stunden möglich…
Nach 7km überließ uns das Begleitmotorrad der gut ausgeschilderten Strecke und nur wenige 100 Meter weiter rief einer der Senioren: „Links abbiegen!“
Wie? Die Ausschilderung zeigte geradeaus! Und die Spitzengruppe folgte dieser Strecke auch. Aber die 8 Radler vor mir bogen mit Schwung nach links auf eine Nebenstraße ab und der Herdentrieb - oder was weiß ich - verleitete mich, Ihnen zu folgen. Mit dieser Entscheidung, das wurde mir sofort klar, hatte ich mich als Ortsunkundiger den sieben Herren und einer Dame auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Meine Hoffnung, dass es sich nur um eine kleine Abkürzung handelte, schwand von Minute zu Minute. Auch deshalb, weil die Spitze unserer kleinen Radlergruppe permanent miteinander diskutierte, welcher Feldweg, welche Fußgängerzone oder welcher Radweg als nächstes genommen werden sollte. Die waren nicht nur schnell, die kannten sich auch noch bestens aus! Zumindest die Oldies. Die zwei Jungspunde hinter mir waren wohl wie ich nur zufällig bei der Truppe gelandet.
Die Strecke schlängelte sich durch blühende Felder und verkehrsarme Bereiche. In Sassnitz holperten wir auf dem Fußgängerweg zum Hafen hinunter, krochen auf üblem Kopfsteinpflaster an der anderen Seite wieder hinauf, erhaschten einen kurzen Blick auf die Radler, die dem offiziellen Kurs gefolgt waren, und quatschten – wenn nicht gerade der Weg diskutiert wurde – über Gott und die Welt. Einfach schön! Nur abhängen lassen durfte ich mich auf keinen Fall! Bestimmt waren wir auch auf einer Abkürzung unterwegs, denn die Truppe kannte tatsächlich jede Gießkanne am Wegesrand.
Aber wo war das Depot mit dem versprochenen Mittagessen? Ich hatte Hunger und die 44km, die auf dem Tacho standen, entsprachen genau meinem Magenknurren und der angegebenen Entfernung bis zur Verpflegungsstation. „Wir sind gleich da! Noch 5km“, hörte ich da den Chefscout von vorn rufen. Wie?! Noch 5km!!! Statt Abkürzung eine Verlängerung? Im Geiste rechnete ich die Zeit durch, dachte an einen schnellen Mittagsimbiss und stellte fest, dass damit die ursprünglich geplanten 4 Stunden immer noch im Bereich des Möglichen lagen.
Die Mittagspause hielt sich auch tatsächlich im Rahmen. Zwar mussten noch ein Pedal repariert, die Toilettenschlange erfolgreich absolviert und der Körper mit reichlich Kohlehydraten versorgt werden, aber trotzdem saßen wir zügig wieder im Sattel. Das lag vielleicht auch an der dunkelgrauen Färbung der Bewölkung über uns. Und als wir schließlich Bergen erreicht hatten, brach ein ordentliches Unwetter über uns herein.
Nun gut, das ist man bei solch langen Strecken gewohnt und hat sich deshalb entweder rechtzeitig mit einer ordentlichen Regenjacke versehen oder trotzt dem Wetter, indem man den Platzregen nach Möglichkeit ignoriert. Nicht so mein „Team“. „Unterstellen!“, hörte ich von vorn – und schwupp standen alle im Eingang eines öffentlichen Gebäudes. Dabei waren wir doch schon alle nass! Meine schöne Zeit!! Die 4 Stunden!!! Aber meine Fahrgemeinschaft kannte kein Pardon: „Wir sind Schönwetterfahrer“, hieß es nur lapidar.
Erst als es wirklich wieder trocken war, ging die Tour weiter. Ungefähr 2km. Dann war der nächste Regenstopp unter einem großen Baum angesagt. Spätestens hier hatte ich die 4 Stunden längst begraben. Da störte es dann auch nicht mehr, dass wir im weiteren Verlauf der Fahrt noch den ein oder anderen Umweg zu „besonderen touristischen Sehenswürdigkeiten“ einlegten.
Aber vielleicht wenigstens die 4:15 Stunden …? Vier Kilometer vor dem Ziel keimte wieder ein zartes Hoffnungspflänzchen. Aber nur für wenige Augenblicke. „Pinkelstopp!“. Die einzige Dame in der Gruppe gab das Kommando und mir die Erklärung dazu: „Im Ziel gibt es keine Toiletten.“
Na prima! Bis sich alle in die Büsche verteilt hatten, verstrichen wertvolle Minuten. Und dann, kaum saßen wir wieder im Sattel, rief Heinrich, mit Ü80 der Älteste in der Gruppe: „Ich hab nen Platten!“
Auch das noch! Ich überlegte kurz, einfach weiterzufahren, verwarf diesen zutiefst unsolidarischen Gedanken aber gleich wieder. Stattdessen beteiligte ich mich rege an der Diskussion, ob Flicken oder einfaches Aufpumpen 2km vor dem Ziel die bessere Lösung sei.
Heinrich entschied sich – zum Glück – fürs Pumpen und dann, endlich, lag das Ziel vor uns. Ein Sprint? Wertvolle Plätze gutmachen, wenn schon die Zeit unsäglich schlecht ausfällt? Blödsinn! Ich ließ den alten Herren, mit denen ich mich über Stunden wunderbar unterhalten hatte und die mich zuverlässig durch verwinkelte Ecken Rügens nach fast 100km ans Ziel gebracht hatten gern den Vortritt.
Schließlich sprang ein hervorragender 18. Platz in der geradezu unglaublichen Zeit von 4:39 Stunden bei dieser Rundfahrt heraus. Festgehalten im Zielfoto von einem weiteren ehemaligen Olympiasieger, der so alt aussah, dass er diesen Sieg wohl bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit errungen hatte.
„Der Mensch denkt, doch Gott lenkt“. Vielleicht nicht immer auf dem kürzesten Weg und auch nicht so schnell, wie wir das gerne hätten – in jedem Fall aber auf dem für uns besten Weg!


Mit dem Wind ... die „Farbe des Sommers“ gesucht. Gerade habe ich mal gegoogelt, was das Netz dazu sagt. Je nach Website, Designer oder Unternehmen trägt man in diesem Jahr Grün, Gelb, Rot, Lila, Blau, Rosa, bunt gemustert oder auch gestreift, Pastelltöne und klare Farben. Weiß geht ohnehin immer und Schwarz hat weiterhin ganzjährig Saison.https://strato-editor.com/.cm4all/widgetres.php/com.cm4all.wdn.Separatingline/images/thumbnail.svg
Natürlich heißt dabei „Gelb“ nicht einfach „Gelb“. Sonst könnte man ja das gelbe Kleid aus der vorherigen Saison tragen. In diesem Jahr muss es aber „Daffodil“ oder „Popcorn“ sein, bestenfalls geht noch ein „sanftes Buttergelb“. Vielleicht also das maisgelbe Shirt – übrigens die Modefarbe der Vorsaison - aus der Kommode nehmen und beim Frühstück mal eben sanft durch die Butter ziehen? „Sanftes Buttergelb“! Mit Popcorn bekleben wäre deutlich aufwendiger, denke ich.
Aber mal ehrlich: Die beste Farbwahl am Meer war schon immer weiß-blau-gestreift. Dieser Streifenlook hat bereits die Sommerfrischler Anfang des 20. Jahrhunderts in den Kaiserbädern gekleidet und ist ein zeitloser Klassiker! Dachte ich zumindest. Ein Blick ins Lifestylemagazin „Glamour“ belehrte mich eines Besseren. Blau-Weiß ist sowas von out. Das heißt heute – also zumindest in dieser Saison – „Skydiver“ mit „White Alyssum“ oder „Glacier Lake“ mit „Snow White“!
Geht Ihnen der ganze Modequatsch manchmal auch so auf den Geist wie mir? Vielleicht doch einfach wieder zur Jeans und dem kratzigen Naturleinenhemd greifen? Ha, da lacht Sie die Modeindustrie aber mal gründlich aus. EINFACH war gestern! Allein die Vielfalt der unterschiedlichen Jeansmodelle sprengt jede Vorstellungskraft. Und natürlich gibt es auch hier eine Vielzahl von Farbbezeichnungen und oben drauf gleich noch diverse, unterschiedlichen Waschungen. Ein Wahnsinn!!
Da setze ich mich doch erst mal aufs Rad und verdaue bei einer schönen Runde durch die Felder der Umgebung das ganze Chaos der Farbbegrifflichkeiten. Das Gelb der Rapsfelder ist verblasst und es dominieren grüne Mais- und hellbraune Getreidefelder. Was für eine Erholung, nach all dem Farbenchaos! Grün und Braun – geht doch! Die Natur braucht keine unverständlichen Kunstbegriffe.
Aber während ich so durch die Wiesen und Felder rolle, weicht meine anfängliche Zufriedenheit einer neuen Irritation. Ziemlich eintönig, diese Monokulturen! Nur ganz am Rand der Getreidefelder zeigt sich etwas roter Mohn, verliert sich die ein oder andere blaue Kornblume. In den Feldern selbst wird solcherlei Unordnung selbstverständlich nicht geduldet. Darauf achtet der zuständige Landwirt. Wer will schon blaue Farbtupfer im Mehl vorfinden?!
Aber ausschließlich Grün und Braun als Farben des Sommers? Jedes Jahr? Überall? Wie langweilig!
Während ich unzufrieden weiterstrample wühlt sich eine Erinnerung aus irgendeinem Hinterzimmer meines Gedächtnisses nach vorn. Gab es da nicht im letzten Jahr diese herrliche Naturwiese, kurz vor der Ortseinfahrt von Latzow? Weiße Schafgarbe durchsetzt mit vielen bunten Tupfern der unterschiedlichsten Wiesengewächse. Na die drei Kilometer Umweg nehme ich doch gerne auf mich, um hoffentlich etwas Abwechslung in der drögen, grün-braunen Sommereintönigkeit zu entdecken. Und tatsächlich: Die Wiese ist noch vorhanden! Natur pur! Aber wo ist die Schafgarbe? Nur vereinzelte weißgekrönte Halme recken aus der Blumenwiese ihre Blüten in den strahlendblauen Sommerhimmel. Und Schafgarbe ist das auch nicht! Stattdessen leuchtet die Wiese dieses Jahr in einem satten Blau! Überraschend, aber auch schön.
Sollte da etwa doch irgendein Landwirt oder Gärtner am Werk sein, der mit lockerer Hand für diesen Farbwechsel sorgt und so dem Sommer seine individuelle Note verleiht? Das muss dann aber ein richtiger Könner sein, der ohne große Landmaschinen, ohne umwälzende Neuanpflanzungen oder andere ordnende Eingriffe, die Optik eines Feldes mal eben von Jahr zu Jahr verändert. Ein richtiger Landschaftsgärtner von Weltruf.
Mir fällt da eigentlich nur einer ein. Gegen ihn sind wir alle Gärtner-Azubis im ersten Lehrjahr. Bestenfalls! Schließlich hat ganz allein er unsere Erde so wunderbar gestaltet. Und ähnlich wie beim „Zauberlehrling“ von Johann Wolfgang von Goethe geht regelmäßig so einiges schief, wenn wir meinen, auch nur ansatzweise an seine Kunst heranreichen zu können. Beispiele erspare ich Ihnen an dieser Stelle. Die fallen Ihnen bestimmt auch reichlich ohne meine Hilfe ein.
Vielleicht sollten wir dem Meister einfach öfter mal freie Hand lassen? Nein, ganz bestimmt! Er bringt nicht nur Farbe in so eine kleine Wiese, sondern auch Ordnung in unser Leben. Seine Ordnung. Mit der, das verspreche ich Ihnen, fahren wir gut. Fast so gut wie mit dem Rennrad und Rückenwind bergab. Nein: Viel Besser!
Ach und die Farbe des Sommers? Ist sowas von egal! Vielleicht machen Sie es einfach wie die Wiese in Latzow und tragen in diesem Jahr Blau mit vielen Farbklecksen. Da sieht man auch die Flecken nicht, wenn beim Picknick am Strand mal nicht alles rund läuft!

Mit dem Wind ... und mit den Wellen wird es an Usedoms Strände gespült, das Gold der Ostsee, der Bernstein. Wer aber nun meint, dass ein gemütlicher Strandbummel ausreicht, um mit prallen, bernsteingefüllten Hosentaschen nach Hause gehen zu können, der irrt. Nicht wenige Urlauber reisen nach zwei Sommerferienwochen auf Usedom enttäuscht ab, ohne einen einzigen Bernstein im Gepäck. Im schlimmsten Fall verfolgt sie noch auf dem Heimweg der Spott ihres Vermieters, der die gelblich glänzenden Kostbarkeiten, die sie ihm nach einem ihrer langen Strandwanderungen stolz präsentierten, mit Kennerblick als stinknormale Steine identifiziert und schallend gelacht hatte.
Ja, es ist tatsächlich gar nicht so einfach, Bernstein zu finden. Erst einmal muss ein kräftiger Sturm aus der richtigen Richtung her, damit die Klunker aus der nördlichen Ostsee oder dem Baltikum den Weg an unsere Strände finden. Ja und dann gibt es auf Usedom eine Menge ausgefuchster, ja fast professioneller Bernsteinjäger, die noch im Morgengrauen die dicksten Brocken vom Strand sammeln, wie erfahrene Pilzsucher die besten Stellen kennen und genau wissen, bei welcher Wetterlage sich das frühe Aufstehen lohnt.
Da bleiben in der Regel nur noch die Krümel übrig, für die urlaubenden Strandläufer, die hochkonzentriert jedes Steinchen, jede Muschel, die nur irgendwie goldig glänzt, hoffnungsfroh aus dem seichten Wasser fischen.
Kein Wunder also, dass mach glückloser Tourist seinen Bernstein aus Frust schließlich im örtlichen Souvenir-Shop oder gleich, entsprechend bearbeitet, beim Schmuckhändler ersteht. Erinnert irgendwie an die glücklosen Angler, die auf dem Nachhauseweg eine Makrele beim Fischhändler erwerben. Möglichst frisch geräuchert, denn so schmeckt sie der Familie am besten. Beim Abendbrot wird dann ausführlich der heftige Kampf mit dem Fisch an der Angel geschildert. Manchmal kommt man mit solchen Geschichten auch tatsächlich durch. Wenn wohlgesonnene Zuhörer ihre Sinne in erster Linie auf den leckeren Fisch rausrichten oder ein etwas naiver Laie beim Anblick des schön gefassten Bernsteins, der „genau so“ einfach am Strand gelegen hat, sofort ins nächstgelegene Reisebüro läuft, um einen Usedom-Urlaub zu buchen.
Aber es gibt sie durchaus, die Glückspilze, die nicht nur die dicksten Fische aus einer trüben Pfütze ziehen, im Herbst wie selbstverständlich mit einem prall gefüllten Korb makelloser Steinpilze aus dem Wald kommen und bei denen zu Hause ein gut gefülltes Einmachglas mit wunderschönen Bernsteinen auf dem Fenstersims steht. Es sei ihnen gegönnt!
Allerdings frage ich mich beim Anblick solch eines überquellenden Bernsteinglases manchmal, warum wir Menschen dazu neigen, alles im Übermaß besitzen zu wollen. Mehr Geld, mehr Land, mehr Macht, mehr Anerkennung: Wir sind als Spezies unersättlich! Und das viel zu oft auf Kosten unserer Mitmenschen oder der Flora und Fauna, die unser Überleben sichert.
Blind, maßlos und völlig unnötig häufen wir Schätze, Ländereien, Vorräte oder auch Machtpositionen an. Wir verschließen sie in Tresoren, sichern sie durch Zäune, Kameras oder mit Wachen und verteidigen sie verbissen und oft gnadenlos gegen tatsächliche oder vermeintliche Eindringlinge und Neider. Ich nenne es das Dagobert-Duck-Syndrom.
Aber sind wir glücklich mit unseren so gesicherten Schätzen? Im Prinzip geht es uns nicht anders als Onkel Dagobert, der aus Angst vor den Panzerknackern niemanden in seinen Geldspeicher lässt. Dessen einzige Freude an seinem Reichtum darin besteht, sich bei einem Talerbad die Goldstücke auf den Kopf prasseln zu lassen und der doch ohne den Kontakt zu seinem Neffen und Habenichts Donald nicht glücklich ist.
Wir sind schon seltsam, wir Menschen. Auch die Apostel waren lange der Meinung, sich selbst genug zu sein. Lieber nicht in die gefährliche Welt ziehen und den Glauben verkünden. Wer keinen reinlässt, der ist sicher – in seinem selbstgewählten Glaubens-Gefängnis. Dort kann man seinen Glauben hegen, pflegen, vermehren und mit Vertrauten und Gleichgesinnten teilen. Aber Gott wäre nicht Gott, hätte er die Jünger nicht auf den richtigen Weg geführt. Raus aus der Komfortzone und hinaus in die Welt. Ein Glaube, der nur im Geheimen blüht, gleicht einer wundervollen Kunstsammlung, die der Öffentlichkeit von ihrem Besitzer vorenthalten wird, einer Schatzkammer, an deren Pracht sich nur wenige Auserwählte erfreuen dürfen.
Und unser stolzer Besitzer des Bernsteinglases? Der darf gern weitersammeln. Aber vielleicht lässt er den nächsten Bewunderer seiner Sammlung einfach mal tief ins Glas greifen und schenkt ihm einen der Steine. Nicht den kleinen, mickrigen, der eh ein Schandfleck zwischen all den glänzenden Stücken in Kluntjegröße ist, sondern einen richtig ordentlichen Bernstein.
Und die entstandene Lücke im Glas? Die wird durch das Lächeln und die Freude des Beschenkten mit ganz neuem, sehr besonderem Glanz gefüllt. Versprochen!

Mit dem Wind ... und was passiert dann? Ja, was passiert eigentlich dann? Jedes Frühjahr stellt sich mir als landwirtschaftlichem Laien diese Frage, wenn ich durch die Felder zwischen Sauzin, Neeberg und Krummin fahre. Ich unterscheide grob zwischen braun und grün, also Feldern, auf denen nichts oder noch nichts wächst und solchen, die offensichtlich bestellt wurden. Was da dann aber jeweils wächst? Keine Ahnung! Grün eben! Erst, wenn das Rapsfeld gelb blüht oder an den langstieligen Gewächsen auf dem Nachbarfeld kleine Maiskolben zu erkennen sind, dämmert bei mir die Erkenntnis. Allerdings nur bei Raps und Mais. Weiß der Himmel, oder zum Glück der Landwirt, was auf den anderen Feldern wächst, reift und gedeiht.

Auch bei anderen Nutz- und Ziergewächsen sind meine botanischen Kenntnisse eher schwach ausgeprägt. Kirsch- oder Apfelbaum? Klar kann ich die unterscheiden! Wenn die entsprechenden Früchte an den Ästen hängen. Vorher genieße ich den Anblick der blühenden Bäume und frage mich völlig unwissend, ein wenig neugierig aber immer erwartungsfroh: Was passiert dann?
Meine Unwissenheit wird mir übrigens von nicht wenigen meiner Mitmenschen als Dummheit oder alternativ auch Faulheit ausgelegt. „In der Schule nicht aufgepasst?!“ „Dafür gibt’s doch Google!“ „Du hast wohl kein Interesse an deiner Umwelt?!“ Alles Kommentare, die ich schon zu hören bekam.
Geht Ihnen das auch so? Sie wissen etwas nicht, gehen der Sache auch nicht auf den Grund und rumms – stehen Sie in der Ecke. Zusammen mit den anderen Trotteln. Wie früher in der Schule.
Von uns wird erwartet, dass wir uns immer informieren. Über alles! Und dadurch ganz genau wissen, was zukünftig passieren wird. Nur so können wir nämlich all das Schlimme vermeiden, das eine ungewisse Zukunft bösartig und hinterhältig vor uns versteckt. Schon als Kind versuchen Eltern oder Lehrer, uns mit warnenden Worten vor Gefahren und schlimmen Erfahrungen zu bewahren. Und in den Medien vergeht kein Tag ohne Warnung vor dem, was unweigerlich passieren wird. Ein arglos abwartendes und scheinbar beliebiges „Was passiert dann?“ ist da nicht angebracht. Im Gegenteil: Ungefragt erhält man sofort die einzig zutreffende Antwort, ergänzt durch überlebenswichtige Verhaltenshinweise. Abwarten und einfach „mal schauen“? Keine Alternative in unserer Gesellschaft in der jedes naive „Was passiert dann?“ selbstverständlich umgehend beantwortet werden muss.
Selbst auf die letzte entscheidende Frage, was denn nach dem Tod wohl passiert, gibt es eine konkrete und selbstverständlich wissenschaftlich, theologisch oder zumindest mit Überzeugung untermauerte Antwort. Wie diese ausfällt, hängt schlussendlich nur davon ab, wen man fragt…
Vor drei Wochen bin ich am frühen Morgen mit meiner entspannten „Was-passiert-dann-Stimmung“ durch die Felder gerollt. Auf einer Wiese standen, weideten oder lagen gemütlich mehrere Kühe. Eine Kuh sah seltsam aus. Irgendetwas hing an ihrem Hinterteil. Ich hielt an und, nachdem ich die Sonnenbrille auf den Helm geschoben hatte, blickte ich durch: Da war offensichtlich eine Geburt im Gange. Oder besser schon fast vorbei, denn im nächsten Augenblick plumpste ein Kälbchen aufs morgenfeuchte Gras. Die frisch gebackene Mutter leckte das Kälbchen und der Nachwuchs brauchte nur Augenblicke, um den Kopf zu heben und in die ersten Morgensonnenstrahlen seines jungen Kälbchenlebens zu blinzeln.
„Aber was passiert dann?“, fragte ich mich unwillkürlich. Das konnte, nein das durfte so nicht sein. Aus einschlägigen Fernsehserien wusste ich natürlich haargenau, was passieren musste. Dass die Geburt eines Kälbchens nämlich immer hochdramatisch ist. Immer! Unausweichlich! Geburt ohne Tierarzt? Einfach unmöglich! Es konnte also höchstens noch Augenblicke dauern, bis ein eifriger Veterinärmediziner mit wehenden Rockschößen, Stethoskop und langen Gummihandschuhen aus einem altersschwachen Offroader stürzen würde. „Halt durch Kälbchen!“, dachte ich unwillkürlich. „Hilfe naht!“
Während die Mutter ihr Neugeborenes weiterhin von den Spuren der Geburt säuberte, nahten andere Mitglieder der Herde und schauten sich den Neuankömmling in aller Ruhe an. Ein Tierarzt? Fehlanzeige. Die Herde hatte alles im Griff und den Nachwuchs freundlich muhend aufgenommen. Einfach tierisch entspannt, diese Herde Rindviecher! Mit meiner medial angeeigneten „Das-passiert-dann-Erwartungshaltung“ lag ich völlig falsch. Ging tatsächlich auch ganz ohne Tierarzt.
Wieder auf dem Rad, schüttelte ich mich, wie das neugeborene Kälbchen. Wieder ein Argument mehr für ein unvoreingenommenes, erwartungsoffenes „Was passiert dann?“! Zum Glück passiert eben nicht immer das, was wir erwarten, befürchten oder nach landläufiger Meinung unausweichlich ist. Dazu ist die Schöpfung viel zu unberechenbar. Zumindest für uns. Einen kenne ich nämlich, der tatsächlich ganz genau weiß, was passiert. Aber der, der verrät uns das nicht. Ist auch gut so. Denn so dürfen wir immer wieder völlig unbelastet, überrascht, staunend und frei von jedem Wissen um die Zukunft fragen: „Was passiert dann?“

Mit dem Wind ... über den Tellerrand geschaut. Oder doch lieber in den Briefkasten vor der Haustür? Es gibt, das haben Sie sicher auch schon beobachtet, zwei Sorten von Briefkastenbesitzern. Die einen ignorieren ihren Kasten völlig. Ist ja eh nichts Wichtiges drin. Höchstens Rechnungen! Oder Werbung, obwohl der Kasten einen deutlich zu erkennenden Werbeverweigungsaufkleber trägt. Ihr Briefkasten wird nur einmal in der Woche geleert. Reicht doch! Nur, wenn die Werbung aus dem Briefschlitz quillt, wird notgedrungen eine Zwischenleerung eingeschoben.

Ich gehöre zur zweiten Gruppe der Briefkasteneigentümer. Das Verhältnis zum bunten Kasten vor meiner Haustür ist von inniger, gegenseitiger Zuneigung geprägt. Fast könnte man es Liebe nennen. Täglich schaue ich mehrfach nach, ob nicht ein verirrter Brief, ein Werbeflyer oder vielleicht ein kleines Geschenk darin zu finden ist. Manchmal tröste ich den Briefkasten, wenn wieder ein Tag ganz ohne Postwurfsendung vergangen ist.
„Die Post ist doch schon längst durch!“, meint meine Frau kopfschüttelnd, wenn ich kurz vor der Tagesschau noch einmal nach unten gehe. Dabei kann man doch nie wissen, ob der Briefträger nicht vielleicht einen Brief oder eine Postkarte in seiner Tasche vergessen hat und – pflichtschuldig und im Wissen um meine Vorfreude auf Post – zum Ende seiner Tour noch einen Extraabstecher zu meinem Briefkasten eingelegt.
Nun haben wir ein kleines schwedisches Ferienhaus und auch dort gibt es natürlich einen Briefkasten. Der hängt in Schweden aber traditionell nicht am Haus, sondern befindet sich, zusammen mit den Briefkästen der Nachbarn aus der näheren Umgebung, an einer Art Briefkastensammelstelle direkt an der nächsten befahrbaren Straße. Der schwedische Briefträger fährt mit dem Auto vor und befüllt, ganz ohne auszusteigen, den ungeordneten Briefkastenhaufen am Wegesrand. Das geht auch richtig flott, denn die schwedischen Briefkästen sind alle unverschlossen und von oben zu öffnen. Deckelklappe auf und rein mit der Post!
Nun bekomme ich in Schweden natürlich nicht mehr Post, als zu Hause. Im Gegenteil: Mein Briefkasten dort weiß nicht einmal, wie ein Brief aussieht. Manchmal fragt er sich sicher, warum er da überhaupt herumhängt. Seine beiden Kollegen an unserem kleinen Sammelplatz haben es hingegen deutlich besser. Die gehören nämlich einheimischen Hauseigentümern.
Mein schwedischer Briefkasten und ich sind echte Leidensgenossen. Weil ich um seine traurige Situation weiß, besuche ich ihn, ohne jede Erwartungshaltung aus Solidarität natürlich trotzdem täglich. Und um meine Sehnsucht nach Postwurfsendungen zu stillen, werfe ich dann auch immer einen prüfenden Blick in die regelmäßig gut gefüllten Nachbarbriefkästen. Nur zur Kontrolle. Man kann ja nie wissen, ob in diesen nicht fälschlich ein an mich adressierter Brief gelandet ist. Selbstverständlich unterdrücke ich den Impuls, eine gerechtere Verteilung der Post vorzunehmen. Wer will denn schon die Rechnungen seiner schwedischen Nachbarn bezahlen?
Bei unserem letzten Aufenthalt im März bekamen die drei einsamen Briefkästen an der Straße nach Bäckaskog allerdings unvermittelt Gesellschaft. An einem sonnigen Nachmittag rückten drei fleißige Handwerker an. Sie hämmerten, sägten, bohrten und als sie nach einer Viertelstunde zurück in Ihren Wagen sprangen und grußlos verschwanden, da standen sie am Straßenrand: drei nagelneue, namenlose Briefkästen! Wir hatten die nicht bestellt! Auch unsere schwedischen Nachbarn waren irritiert. In der Presse hatte nichts von einer großangelegten kommunalen Geschenkaktion gestanden. Auch hatte keine andere Ansiedlung in der näheren Umgebung neue Briefkästen erhalten. Es musste sich also, so der kollektive Verdacht unserer kleinen Community, um irgendeine hinterhältige Gemeinheit gewiefter Betrüger handeln! Vielleicht wollten diese so Post erbeuten, die irrtümlich in die neuen Kästen eingeworfen wurde? Oder demnächst eine dicke Rechnung fürs Aufstellen präsentieren? Oder vielleicht handelte es sich bei den Kästen gar um drei scheinheilige Briefkastenfirmen im Nirgendwo? In den folgenden Tagen fiel uns auf, dass auch weiter entfernt wohnende Nachbarn vor den Briefkästen anhielten, den Kopf schüttelten und wieder ins Auto stiegen.
Irritation und Misstrauen – so reagieren wir auf viele Dinge. Und diese Reaktion ist keineswegs neu. Auch vor zweitausend Jahren waren die Menschen schon irritiert, als da plötzlich einer auftauchte, der die Auferstehung und das ewige Leben predigte. Was wollte dieser Typ? Der konnte doch nichts Gutes im Schilde führen, mit seinen vollmundigen Versprechungen! Das Misstrauen der Zeitgenossen Jesu war so groß, dass sie – wir wissen es alle – versuchten, der scheinbaren Bedrohung ein Ende zu machen. Kreuzigung und Schluss! Genützt hat ihnen das nichts. Zum Glück!
Vielleicht sollten wir versuchen, unser erlerntes und oft tief verwurzeltes Misstrauen gegen alles Neue und Ungewöhnliche öfter infrage zu stellen. Wäre Jesus nicht so hartnäckig gewesen und einfach auferstanden, seine Zeitgenossen hätten durch ihre unbegründete Angst zusammen mit ihm das zart erblühende Christentum ans Kreuz genagelt und damit für alle Zeiten erledigt.
Mehr Offenheit für Neues also. Was aber heißt das für unsere drei schwedischen Briefkästen? Vater, Sohn und Heiliger Geist werden dort wohl kaum einziehen. Aber vielleicht finden wir ja am Ostersonntag in jedem Kasten ein Osternest, das freundliche Mitmenschen dort für uns „eingeworfen“ haben? Vielleicht hatte auch ein unbekannter Spender Mitleid mit unserem wackligen, in die Jahre gekommenen Briefkastenständer? Zu Ostern statt den üblichen Schokohasen einen neuen Briefkasten? Könnte doch sein. In jedem Fall werden wir genau beobachten, wie sich die Sache entwickelt. Nicht misstrauisch, sondern neugierig, interessiert und unvoreingenommen. Vielleicht hilft es auch, wenn wir uns gelegentlich vor Augen führen, dass das, was heute für uns Christen so selbstverständlich ist, für die Jünger, ja für alle Menschen die vor 2000 Jahren in Jerusalem das erste Osterfest miterlebten, ein riesiges Mysterium darstellte. Da war damals eine richtig große Portion Glauben, Vertrauen und positives Denken gefragt!
Lassen wir uns immer neu ein, auf das Ostermysterium – das Fundament unseres Glaubens! Dann fällt es uns mitunter auch leichter, mysteriösen Popup-Briefkästen und andere Merkwürdigkeiten des Lebens weniger ängstlich zu begegnen.

Mit dem Wind ... naht sie mit dem Aschermittwoch unausweichlich, wie die Mahnung auf eine unbezahlte Rechnung: die vorösterliche Fastenzeit. Zu diesem Zeitpunkt liegen die guten Vorsätze für das neue Jahr schon einige Wochen zurück, sind umgesetzt, vergessen oder mangels Durchhaltevermögen ersatzlos gestrichen worden. Also findet sich – zumindest bei mir – wieder hinreichend Platz zur asketischen Gestaltung der siebenwöchigen Fastenzeit vor Ostern. Keine Chips, kein Eis, kein Alkohol, jeden Tag an die Umwelt denken, kein TV, weniger Kaffee oder auch kein sinnloses Onlineshopping – mit 55 Jahren hat man schon so einige Fastenprojekte mehr oder weniger erfolgreich absolviert. Und es ist gar nicht so einfach, jährlich einen neuen und darüber hinaus auch sinnvollen Fastenvorsatz zu finden. Wahrscheinlich erscheinen genau aus diesem Grund pünktlich zu jeder Fastenzeit zahlreiche, gut gemeinte Listen mit möglichen Fastenprojekten. Die Ähnlichkeit zu den unterschiedlichen Diätvorschlägen, mit denen uns Magazine und Werbung pünktlich nach den Weihnachtstagen drangsalieren, ist manchmal nicht zu überlesen. Fastenklassiker treffen dabei auf innovative Vorschläge, nachhaltige Ansätze auf revolutionäre Ideen. Da ist tatsächlich für fast jeden etwas dabei.

Mein diesjähriges Fastenprojekt habe ich allerdings keiner solchen Aufstellung entnommen. Vielmehr ist es beim Blättern in der Wochenendausgabe unserer Tageszeitung entstanden. Ein spannender Artikel befasste sich – eigentlich nur am Rande – mit der „Dummheit“. Und nach der Lektüre dieses Beitrags stand für mich fest: Ich plane für die diesjährige Fastenzeit ein exzessives Dummheitsfasten!
Nicht möglich, denken Sie? Dumm ist man, oder auch nicht? „Dummheitsfasten?! Wie soll das denn gehen?“, wurde ich deshalb bei der Bekanntgabe meines Fastenvorsatzes gefragt. Und tatsächlich hängt das Dummheitsfasten ganz eng mit der Definition der Dummheit zusammen. Bisher dachte ich immer – wie wahrscheinlich die meisten Menschen – das Gegenteil von schlau sei eben dumm. Wie schlau ein Mensch ist, hat dann mit der individuellen Intelligenz zu tun, die man bekanntlich über den IQ meint messen zu können. Ein schlauer Mensch hat demnach einen hohen IQ, ein dummer einen niedrigen. Somit verfügt also der Schlaue über ein geringeres Maß an Dummheit, als der Dumme. Die Kurzformel lautet deshalb: Hoher IQ = geringe Dummheit, niedriger IQ = große Dummheit. Insofern kommt dann das Dummheitsfasten tatsächlich auch nur für den richtig Dummen infrage, wie die Diät für den stark Übergewichtigen oder der Entzug für den Kettenraucher.
All das steht und fällt allerdings mit der Definition von Dummheit. In besagtem Zeitungsartikel, der die Inspiration für meine Fastenaktion lieferte, wurde die Psychiaterin, Frau Heide Kastner, wie folgt zitiert: „Das zentrale Merkmal von dummen Leuten ist, dass sie ausschließlich die eigene Position priorisieren.“ Zu kompliziert? Nein, Sie sind nicht dumm! Ich musste den Satz auch mehrmals lesen, aber jetzt interpretiere ich ihn gern für Sie: Nicht etwa der niedrige IQ vereint alle Dummen, sondern die Unfähigkeit oder der mangelnde Wille, über andere Meinungen als die eigene überhaupt nur nachzudenken. Menschen, die sich für besonders intellektuell halten, sind für diese Art der Dummheit also ebenso anfällig, wie klassische Schwarz-Weiß-Seher, Führungskräfte ebenso wie lautstarke „Ich-bin-das-Volk-Krakeeler“.
Eine Meinung haben dürfen wir alle. Was uns allerdings von den richtig Dummen unterscheiden sollte, das ist unsere Bereitschaft, die eigene Position immer wieder zu hinterfragen, gegebenenfalls zu korrigieren und die der anderen nicht ungeprüft und vorschnell zu diskreditieren. Dummheitsfasten bedeutet, dem anderen zuzuhören, offen zu sein, für Gedanken und Positionen, die von der eigenen Überzeugung abweichen, Verständnis zu entwickeln und Toleranz zu üben.
Als Christen, denen die Liebe zu den Mitmenschen als eines der beiden wichtigsten Gebote mit auf den Weg gegeben wurde, sollte das eigentlich kein Problem sein. Wer liebt, grenzt nicht aus. Wer liebt, hört zu. Wer liebt, sieht im anderen den Mitmenschen und nicht den Feind. Wenn wir uns intensiv auf Gott hin orientieren – und genau das ist der Sinn der Fastenzeit –, dann steht das Gebot der Nächstenliebe über allem. Das ist auch tatsächlich die einzige Position, die als Lebensmaxime nicht verhandelbar ist. Orientieren wir uns an ihr, dann wird alles gut!
Meinen IQ kenne ich übrigens nicht. Die Neigung, die eigene Position an der ein oder anderen Stelle als den Nabel der Welt zu betrachten, kann ich allerdings nicht leugnen. Aber nach sieben Wochen Dummheitsfasten sollte ich, wenn auch vielleicht noch nicht am Ziel, so doch auf einem guten Weg sein!
Gutes Durchhalten bei Ihrem diesjährigen Fastenvorsatz wünsche ich! 

Mit dem Wind ... mal freundlich „Moin“ gerufen. „Moin“ und nicht etwa „Morjen“, wie der Berliner gern mal am frühen Morgen schnodderig die Kollegen begrüßt. Es hat lange gedauert, bis ich nach meiner Kindheit und Jugend auf der Nordseeinsel Langeoog verstanden habe, dass sich an meinem Studienort Berlin die Menschen auf den Arm genommen fühlen, wenn man ihnen am späten Nachmittag ein gutgelauntes „Moin“ zuruft. Von humorigen Sprüchen wie: „Na, auch schon ausgeschlafen?“, über irritiertes Kopfschütteln bis hin zum belehrenden „Es ist bereits Nachmittag, falls Sie das nicht bemerkt haben sollten!“, war alles dabei. Nur ein „Moin“ als Antwort auf meinen Gruß habe ich in all den Jahren nie erhalten.

Ich habe mich also angepasst. Das geht, denke ich, vielen Menschen so, die innerhalb Deutschlands umziehen. So kann ich mir nur schwer einen ostdeutsch geprägten Atheisten vorstellen, der, ein munteres „Grüß Sie Gott“ rufend, durch ein oberbayerisches Örtchen wandert. Aber wenn er nicht ewig ein Fremdkörper in seiner neuen Heimat bleiben möchte, dann wird er nach einigen Monaten oder Jahren den ortstypischen Gruß benutzen, wenn auch zunächst vielleicht nur widerwillig. Atheismus hin oder her. Man muss halt Prioritäten setzen.
Oder nehmen wir den klassischen Handschlag, der in vielen Regionen Deutschlands einfach zur Begrüßung dazugehört. Fragen sie mal in Hamburg nach, was so ein unterkühlter Hanseat davon hält, wildfremden Menschen die Hand zu schütteln. Die verschiedenen Formen des Grüßens oder Begrüßens sind ein weites Feld, doch nicht zu grüßen, um nur ja keinen Fettnapf mitzunehmen, ist auch keine Option.
Aber zurück zum „Moin“ und damit an die Küste. Oft wird die Kürze dieses Grußes ja damit begründet, dass der Küstenbewohner an sich maulfaul und wortkarg sei. Mit dieser Fehleinschätzung muss ich hier einfach einmal gründlich aufräumen. Die Bewohner der nördlichen Gestade sind einfach Pragmatiker. Das zunächst so kurz und harsch wirkende platt- oder niederdeutsche „Moin“ ist nämlich eine der inhaltsreichsten Grußformeln, die wir in Deutschland haben. Ins Hochdeutsche übersetze lautet der Gruß ungefähr so: „Hallo, wie geht es dir? Bei mir ist alles in Ordnung!“ Und die Antwort – das klassische „Moin, Moin“ – meint dann: „Schön, dich zu sehen und dass es dir gutgeht. Bei mir ist auch alles schick. Wünsche dir noch einen schönen Tag!“
Wenn der andere nicht antwortet, was vorkommen kann, gibt es dafür gleich mehrere mögliche Erklärungen: Entweder war der Wind zu stark und er hat das „Moin“ nicht gehört oder es geht ihm tatsächlich nicht gut. Da wäre es dann angebracht nachzufragen. Vielleicht hat er aber auch einfach schlechte Laune, oder fragt sich nur, welcher Dösbaddel ihn da überhaupt gegrüßt hat und vergisst darüber die Antwort. Und schließlich kann es sich ja auch um einen Sprachanfänger handeln, der, kürzlich zugezogen, noch nicht in die Tiefen des norddeutschen „Grußformeltums“ vorgedrungen ist.
Jetzt aber zur eigentlichen Erklärung für die Reduzierung der beschriebenen, inhaltlich komplexen, Grußformel auf das einfache „Moin“: An der Küste ist es oft windig, meistens sogar sehr windig. Nun stellen Sie sich den oben geschilderten Dialog mal zwischen zwei Radfahrern bei Windstärke 10 und prasselndem Regen vor. Was würde wohl beim Gegenüber ankommen, von einer freundlichen, gelängten und wertschätzenden Grußformel? Richtig! Nichts!! Aber so ein schneidiges „Moin“, das dringt selbst durch die festgezurrte Kapuze des Südwesters, und auch für eine Antwort reicht der kurze Moment der Begegnung noch, bevor der eine Radler, geschoben vom Rückenwind, sich mit rasender Geschwindigkeit entfernt, während der andere im Schritttempo weiter gegen den Sturm ankämpft. Oder nehmen wir den Lotsen, der bei aufgewühlter See das Schiff wechselt, den Fischer, der im Hafen anlegt oder auch den Hafenarbeiter, der die Koffer der Touristen in den Containern der Fähre verstaut. Für ein „Moin“ ist es nie zu windig, reicht die Zeit immer aus und kriegt selbst der wortkargste Vorpommeraner noch die Zähne auseinander.
Vielleicht gilt die alte Volksweisheit, dass in der Kürze oft die Würze liegt, aber nicht nur für das norddeutsche Moin. Wenn ich an unser Neues Testament denke, dann war Jesus auch kein Anhänger des großen Rumgeschwafels. Er hat die Sache auf den Punkt gebracht und zur Erläuterung höchstens noch das ein oder andere Gleichnis nachgeschoben.
Ellenlange Litaneien? Stundenlanges Beten? Ich bin mir sicher, dass Gott zuhört, denn er hat unendlich viel Geduld. Ich bin auch davon überzeugt, dass ein solches Gebet dem Beter hilft. Alles gut also. Und trotzdem besitzt für Gott ein kurzes Gebet am Abend, ein Stoßgebet in der Not oder ein ungelenkes Kindergebet mit Sicherheit den gleichen Wert, wie ein kompletter Rosenkranz oder eine Anbetungsstunde. In jedem Fall kommt es auf die gute Absicht des Grüßenden oder Betenden an und nicht auf den Textumfang. Das gilt für den Gruß wie für das Gebet.
Sagen wir also lieber kurz und knapp „Moin“ und meinen damit so viel mehr, als dass wir sinnlos aber wortreich daherreden, ohne wirklich etwas zu sagen oder zu meinen.
 

Mit dem Wind ... lösen sie sich viel zu oft einfach in Luft auf – die Namen meiner Mitmenschen. Während meine Frau nie einen Namen vergisst, schwanke ich täglich orientierungslos durch die mich umgebende Namensvielfalt, baue Eselsbrücken, schreibe mir kleine Notizzettel oder versuche mich an anderen, wissenschaftlich erprobten, Merkstrategien. Doch der Erfolg all dieser Maßnahmen ist überschaubar. So passiert es, dass mir selbst bei guten Bekannten oder Freunden der Name partout nicht einfallen will. Peinlich, aber leider nicht zu ändern. Vorlieben, Eigenschaften, die Lebensgeschichte sind kein Problem. Die verbinde ich fest mit der jeweiligen Person, während deren Name auch gern mal während eines Gesprächs diffundiert.

Ist doch vielleicht nicht sooo wichtig, so ein Name? Auch wenn sich werdende Eltern schon seit tausenden von Jahren neun Monate lang fragen, beziehungsweise von ihrer Umgebung intensiv verhört werden: Wie sollen es denn nun heißen? Recht machen können sie es übrigens in der Regel niemandem. Eltern, Verwandte, Freunde und schließlich nicht selten das Kind, das den gewählten Namen ein Leben lang tragen darf, haben häufig ganz andere Vorstellungen. Dabei sind doch alle Namen, der eine mehr, der andere weniger, Duzendware. Die Menschen dahinter allerdings sind einzigartig. Marion oder Max, Franziska oder Matthias – es gibt sie in rauen Mengen, die Namensträger; als Person aber ist jede, ist jeder einmalig.

Bei den inzwischen immer exzentrischeren Mode- und Fantasienamen fällt mir das Merken im Übrigen etwas leichter. Nicht, weil die schön sind oder so gut passen, aber Vornamen wie Claire-Grube, Diva Thin Muffin Pigeen, oder auch Audio Science Clayton, Jo-Ghurt und King-Cobra prägen sich einfach besser ein, als Anna und Lena. Obwohl das auch nur für den ersten Moment zutrifft. Spätestens, wenn die Claire in der nächsten Grube verschwunden oder der King in sein Reich zurückgekehrt ist, sind auch diese Namen nur noch Schall und Rauch.

Heute Morgen bin ich dann noch über ein weiteres Problem auf dem weiten Feld der Onomastik gestolpert. Nachdem mir meine Frau, die immer recht schnell mit allen „per Du“ ist, von einer Martina erzählte, dauerte es wie so häufig mehrere Minuten, bis ich den Namen mit einer Person in Verbindung bringen konnte. Das lag dann in diesem Fall daran, dass wir inzwischen geschätzte 3-5 Martinas kennen. Gefühlt sind es noch deutlich mehr. Manchmal, wenn ich nicht aus der Erzählung auf die Person rückschließen kann, frage ich auch nach: „Ist das die Martina, die …?“, und werde natürlich umgehend ob meiner geistigen Unflexibilität gerüffelt.

Das finde ich ungerecht! Als klassischer „Siezer“ habe ich das Problem mit der Namensschwemme nämlich deutlich seltener. Gut, bei Meier oder Schmidt empfiehlt es sich, ergänzend auf den Vornamen zurückzugreifen, aber ansonsten bin ich mit meinem „Sie“ und dem Nachnamen definitiv eindeutiger unterwegs. Die Nachnamen der Freundinnen meiner Frau kenne ich übrigens nicht. Die wurden mir einfach vorenthalten und ich damit der Möglichkeit beraubt, zumindest versuchsweise eine personelle Zuordnung vorzunehmen. Die Martinas unterscheide ich deshalb ausschließlich aus dem Erzählzusammenhang heraus und das kann dauern. Für meine Frau natürlich immer viel zu lange.

Wie aber kommen die Menschen in Ländern wie Schweden klar, wo sogar der König geduzt wird? Oder Firmen, zu deren moderner Unternehmensstruktur das „Du“ genauso gehört, wie der Kaffeevollautomat im Gemeinschaftsbüro? Ganz einfach: Sie wenden ein erprobtes Verfahren aus vielen Jahrtausenden Menschheitsgeschichte an und ergänzen den Namen durch eine Berufsbezeichnung oder ein anderes Attribut. Jacob der Klempner oder Markus aus der IT, Britta aus Köln oder Lisa mit dem Pferdeschwanz. Schwierig wird es natürlich, wenn Lisa sich eine neue Frisur zulegt, Britta umzieht oder ein zweiter Markus in der IT auftaucht.

Sie merken schon: Als „Siezer“ hat man es da leichter! Zugegeben: Ich vergesse Nachnamen nur unwesentlich langsamer als Vornamen und das „Du“ hat den Charme, dass mein Gegenüber nie vermuten würde, dass ich seinen Namen gerade mal wieder nicht auf dem Schirm habe. Aber so eine klangvolle Kombination aus Vor- und Zunamen erhöht meine Erinnerungschancen und damit die Trefferquote um satte 100%. Wenn der Vorname – sei das nun Lena, Martina oder Marion – keinen Treffer in meinem überforderten Gehirn erzielt, dann löst vielleicht der Nachname Prysbilla-Ehrmankraut einen, wenn auch nur schwachen Erinnerungsreflex aus. Zwei Namen, zwei Chancen. Man greift nach jedem Strohhalm!

Mir völlig unverständlich ist übrigens, wie der liebe Gott das regelt. Er kennt jeden von uns besser als wir uns selbst und selbstverständlich auch unsere Namen. Wie sollte er sonst die Schutzengel zielgerichtet zu ihrem jeweiligen Einsatzort schicken? „Geh mal zu Herrn Wang, der fällt sonst gleich die Treppe runter!“ Dieser Auftrag würde jeden Schutzengel komplett überfordern, wenn man bedenkt, wie viele Millionen Wangs es allein in China gibt. Gott muss also ein besseres, ein unfehlbares ein fantastisches System entwickelt haben, um knapp 10 Milliarden Menschen unterscheiden zu können, zumal er mit einem nicht unerheblichen Teil von ihnen auch noch regelmäßig tiefsinnige und komplexe Gespräche - genannt Gebete – führt. Ich freue mich jetzt schon darauf zu erfahren, wie er das hinkriegt.

Hier und heute bleibt mir nur festzustellen: Gott ist eben Gott, und wir Menschen geben uns zwar die größte Mühe, göttliches Denken und Handeln zu imitieren, scheitern dabei aber schon regelmäßig bei so lächerlichen Dingen wie der Namensgebung. Denn seien wir mal ehrlich: Wer möchte schon ein Leben lang Claire-Grube, Jo-Ghurt oder King-Cobra heißen? Ich nicht!

Mit dem Wind … auf das Wesentliche besinnen! Das wird zu Weihnachten immer wieder angemahnt und ich dachte, das ist der richtige Zeitpunkt, sich einmal intensiver mit den sogenannten „Ansitzeinrichtungen“ zu beschäftigen. Keine Ahnung, was das ist? Aber „Hochsitz“ oder „Jägersitz“ haben Sie sicher schon mal gehört. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben Sie auch schon häufiger – meist widerrechtlich – eine dieser hölzernen Aussichtsplattformen erklommen, um die Gegend aus der Vogelperspektive in Augenschein zu nehmen. Vielleicht ging es auch nur um eine Mutprobe, denn häufig sind die Leitern zur Plattform morsch, fehlen Stufen, oder der Hochsitz schwankt und knirscht wenig vertrauenserweckend beim Aufstieg. Wahrscheinlich sind Hochsitze auch die einzigen Bauwerke, die im öffentlichen Raum stehen und ohne Baugenehmigung oder regelmäßige Sicherheitsprüfung, ohne TÜV und Wartungsinterwalle auskommen.

Es gibt aber auch wahre Luxusressorts unter den Hochsitzen, ausgestattet mit Dach, Sitzbank und zahlreichen Ablagemöglichkeiten. In Schweden habe ich sogar schon eine Plattform mit bequemem Bürostuhl und Getränkehalter – vielleicht für das Fläschchen Jägermeister? – gesehen. In der Regel sind die Hochsitze, denen wir in Wald und Flur begegnen, aber doch spartanische, schnörkellose Bauwerke, die mordlustigen und schießwütigen Jägern ermöglichen, ihrer niederen Gesinnung noch effizienter nachzugehen, als dies beim Streifen durchs Dickicht eines dunklen Tannenwaldes möglich wäre. Typen also, die mit ihren reichen Jagdkumpanen prinzipiell angetrunken aus luftiger Höhe auf unschuldige Rehe und Wildschweine ballern, Hasen nur deshalb verschonen, weil die zu klein sind und nach erfolgtem Weidwerk ihre Trophäen in Form von Zwölfendern zu Hause an die Wand nageln.   Einseitige Betrachtungsweise? Aber sicher! Klischees? Immer gern! Und deshalb wechseln wir hier einfach mal die Perspektive. Warum? Weil wir es können!

Stellen wir uns doch einfach mal die unglaubliche Ruhe an einem frühen Samstagmorgen auf einer Waldlichtung vor. Der Jäger sitzt mit einer Thermoskanne Kaffee und dick eingemummelt gegen die aufsteigende Dezemberkälte auf seinem Hochsitz. In einiger Entfernung weidet das Rotwild. Der Schnee, der Wald und Feld bedeckt, glitzert im letzten Licht einer sternenklaren Nacht, bevor sich – viel, viel später – die ersten Strahlen einer unausgeschlafenen Wintermorgensonne zeigen. Es ist still. Unser Jäger hat, wie an so vielen anderen Tagen, die Flinte längst an die Rückwand des Hochsitzes gelehnt. Er sitzt nur da, staunt und genießt jeden Augenblick dieser frühen Morgenstunde. Die anstrengende Arbeitswoche? Schnee von gestern! Die Gedanken über den anstehenden Weihnachtsstress? Ganz weit weg!

Diese Zeit der Ruhe und Kontemplation in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden auf dem Hochsitz ist es, warum er damals seinen Jagdschein gemacht hat. Wie hätte er denn sonst der Familie oder seinen Freunden erklären sollen, warum er zu nachtschlafender Zeit viele Stunden auf einem klapprigen Hochsitz verbring? Die hätten ihn doch alle für verrückt erklärt!

Als die erste Morgenröte sich gemächlich am Horizont breitmacht, packt unser Jäger seinen Rucksack schultert das Gewehr und macht sich durchgefroren aber glücklich auf den Heimweg. Seine Familie kennt das schon, wenn er, die Tüte mit frischen Bäckerbrötchen im Rucksack anstatt einem erlegten Rehbock auf der Ladefläche des Pickups, lächelnd und mit sich und der ganzen Welt im Reinen nach Hause kommt. Was für ein schöner Start ins Adventswochenende!

Schaffen wir das auch? Gelingt es uns, die Flinte in die Ecke zu stellen, die Vorweihnachtszeit nicht als Stress, sondern als das wahrzunehmen, was sie eigentlich ist – eine Zeit der Erwartung, der Vorfreude, des Innhaltens? Gar nicht so einfach, denn in unserem Alltag fehlt uns viel zu häufig ein einsamer Hochsitz in den frühen Morgenstunden, ein ruhiger Angelplatz am See, eine geöffnete und einladende Kirche und nicht zuletzt die Zeit, die Muße, der Abstand fürs Wesentliche.

Das Kind in der Krippe ist so klein und unscheinbar und doch so unendlich wichtig für unser Sein! Schärfen wir also unseren Blick und nehmen wir uns die Zeit; dann erkennen wir, wie wesentlich Gott für uns und unser Leben ist.

Mit dem Wind ... wird es heute mal ganz persönlich. Der 9. November ist nicht nur für die deutsche Geschichte ein wichtiger Tag; ich habe mir dieses Datum vor vier Jahren ganz bewusst für meine unumgängliche Herz-OP ausgesucht. Tja, mein Herz! An diesem Tag, der früh am Morgen im Operationssaal der Herzchirurgie begann, hatte mein Herz fast einen Urlaubstag. Während der Stunden, die die Operation dauerte, war ich an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und mein wichtigster Muskel hatte Feierabend. Dementsprechend unwillig stelle er sich auch an, als er zum Ende der Operation wieder übernehmen sollte. Wer lässt sich schon gern nach Feierabend vom Sofa und zurück an die Arbeit holen? Prinzipiell hatte ich deshalb auch durchaus Verständnis dafür, dass mein Herz einige nachdrückliche Ermahnungen und etwas Anschubhilfe durch die Ärzte benötigte, um wieder selbstständig zu schlagen. Froh bin ich aber schon, dass es sich schließlich einsichtig gezeigt hat.

Und dann? Irgendwie muss mein Herz sein Alter im Zuge der Operation völlig vergessen haben. Es schlug danach so schnell wie bei einem Säugling kurz nach der Geburt, machte Sprünge und Hopser vor lauter „Wieder-lebens-freude“ und brauchte Monate, nein Jahre, um sich darauf zu besinnen, dass es ja schon 50 Jahre auf dem Buckel hat und damit nun wahrlich kein junger Hüpfer mehr ist.

Am Herz hing allerdings noch mein restlicher Körper, inklusive Gehirn. Schläuche und diverse Zugänge gab es da natürlich auch, und mein Allgemeinzustand war doch arg lädiert, meinte zumindest meine Frau. So ein Restart, der am PC ganz einfach mit dem „Affengriff“ oder anderen kleinen Kniffen durchgeführt werden kann, hat es tatsächlich in sich. Ich habe in den Monaten nach der OP öfter über die Redewendung „sich wie neugeboren fühlen“ nachgedacht. Das sagt man so einfach daher, dabei wissen wir gar nicht, wie das eigentlich war – geboren zu werden. Das Gehirn ist bei der Geburt längst noch nicht ausreichend entwickelt, um sich später an diese erinnern zu können, und ich bin absolut sicher, dass die Natur das sehr weise so eingerichtet hat. Wenn sich „geboren werden“ ungefähr so anfühlt wie meine Wiedergeburt nach der Herzoperation, dann will man sich da wirklich nicht daran erinnern!

Schmerzen hatte ich keine. Die wurden durch Unmengen von schmerzstillenden Substanzen, die meinem Körper über verschiedene Leitungen zugeführt wurden eliminiert. Allerdings war mein Gehirn komplett überfordert. Als nicht benötigte Schaltzentrale hatte es während der OP ebenfalls den Betrieb eingestellt und versuchte jetzt, alle Synapsen wieder richtig zu verdrahten. Mit zunächst durchaus mäßigem Erfolg. Wirre Alpträume überfielen mich sofort, wenn ich die Augen schloss, Erinnerungsblitze zuckten durch das Unterbewusstsein, wurden kombiniert mit surrealen Bildern und das alles in der rasenden Geschwindigkeit einer Achterbahnfahrt mit integriertem Mehrfachlooping. Augen zu und los ging der wilde Ritt durch Raum und Zeit! Die Augen zu öffnen war allerdings auch nicht immer eine gute Idee. Am dritten Tag nach der OP übte sich nämlich in einem solchen Moment die fürsorgliche Krankenschwester im Kopfstand und brachte mir in dieser Haltung einen Tee, ohne ihn zu verschütten. Ein andermal wurde die Verbindung zwischen Sehnerv und Gehirn nicht nur gestört, sondern komplett unterbrochen. Plötzlich blind zu sein war auch eine Erfahrung, die man sich nicht wünscht.

Inzwischen ist aber alles wieder im Lot. Auch die Krankenschwester! Und fest steht für mich: Wenn so eine kleine Wiedergeburt schon solch traumatische Erlebnisse vermittelt, dann bin ich unglaublich froh, mich – wie alle anderen Menschen – nicht an meine richtige Geburt erinnern zu können.

Jetzt aber doch noch einen Schritt weitergedacht – und da wären wir dann mitten im November, mit den Festen Allerheiligen, Allerseelen oder auch dem Totensonntag: Wenn Gott uns so gut vor dem traumatischen Erlebnis der eigenen Geburt abschirmt, wenn wir völlig unbelastet von diesen Minuten oder auch Stunden ins Leben starten können, vielleicht dürfen wir dann auch darauf vertrauen, dass er die Sache mit dem Ende, dem Tod, ebenso perfekt arrangiert hat? Fragen können wir ja niemanden, aber ich habe mir inzwischen fest vorgenommen: Augen zu und durch! Wie bei der Geburt. Und fest darauf vertrauen, dass Gott in seiner Liebe und Weisheit das richtige Sedativum zur Hand hat, um mir den Übergang zu erleichtern.

Übrigens: Wenn ich inzwischen mein Herz klopfen höre, dann gerate ich nicht mehr in Panik. Stattdessen freue ich mich, dass es sich bemerkbar macht, sage ihm freundlich „Hallo“ und danke ihm jeden Tag, dass es so zuverlässig und treu seinen Dienst verrichtet. Und vielleicht belanglose Floskeln wie die „herzlichen Grüße“ oder jemanden „von Herzen liebhaben“ haben für mich heute eine viel tiefere Bedeutung als noch vor wenigen Jahren. Wir alle haben ein Herz, das uns treu dient – von der Geburt bis zum Tod. Wir sind nie „herzlos“, solange wir leben. Daran sollten wir täglich denken und unser Verhalten, unser Handeln danach ausrichten.

Mit dem Wind ... ist er ganz plötzlich wieder da, der „Schattenmonat“ Oktober! Schatten? Oktober? Ist denn die Frage, ob man im Café lieber im Schatten oder in der Sonne sitzen möchte nicht eher im Juli oder August angebracht? Zumindest sind das die Monate, in denen meine Frau und ich selten einer Meinung sind, wenn es um den besten Sitzplatz geht. Sie Schatten und ich Sonne. Daran hat sich in den letzten 29 Jahren nichts geändert. Wie gut, wenn beides vorhanden ist. Wobei ich mich regelmäßig benachteiligt fühle. Für Schatten kann man leicht durch einen gut platzierten Schirm, einen Sonnenhut oder auch eine Pergola sorgen. Aber wer sorgt für Sonne, wenn am Himmel wieder einmal dicke Wolken ihr Unwesen treiben? Die Welt ist so ungerecht – und immer auf Seiten meiner Frau!

Aber zurück zum Oktober und den langen Schatten, die von der tiefstehenden Sonne an einem wolkenarmen Tag wie aus dem Nichts auf den Boden gezaubert werden. An einem schönen Frühherbstnachmittag ist es meist soweit: Freundlich grüßend fährt auf einer Feierabendfahrradrunde mein Schatten neben mir. Überholt in der nächsten Kurve oder bleibt bescheiden zurück, wenn die Straße sich in die entgegengesetzte Richtung windet. Ein treuer Begleiter, kein Gegner, der mir davonradelt. Fest verbunden mit mir und meinem Rad folgt er mir durch Dick und Dünn, bergauf und bergab – bis zur nächsten Wolke. Dann ist er ganz plötzlich verschwunden, nur um Sekunden später in einer Wolkenlücke wieder vor, hinter oder neben mir aufzutauchen. Aus einer einsamen Ausfahrt wird so eine gemeinsame Tour durch die Herbstsonne. Wenn ich dem Schatten zuwinke, dann winkt er freundlich zurück, wenn ich an einer Steigung aus dem Sattel muss, dann schließt er sich ungefragt an. Eigentlich schön, denn so ein Schatten stört auch nicht die wunderbare Stimmung einer solchen Spätherbstrunde durch lautes Herumquatschen oder neugierige Fragen. Und die Entscheidung, in welche Richtung es gehen soll überlässt er gerne mir.

Einen Nachteil aber hat dieser Schatten, der da im Herbst so urplötzlich neben mir auftaucht. Er zeigt mir jedes Mal, dass ich wie ein nasser Sack auf meinem Rad sitze. Und was meine Frau mit all ihren Ermahnungen und gut gemeinten Hinweisen auf meine schlechte Haltung nie schafft, das gelingt diesem Schattenbild sofort: Ich drücke den Rücken durch, strecke mich, nehme Haltung an. Sieht gut aus der Mann! Fast wie ein Profi bei der Tour de France! Ein Bild von einem Rennradler! Aber spätestens nach einer halben Minute hoffe ich inständig, dass mich eine freundliche kleine Wolke erlöst und ich, unzensiert von meinem gnadenlosen Schatten, wieder in eine komfortable „Sackposition“ zusammensinken kann.

Mit der Entspannung ist es vorbei und der weitere Verlauf der Tour vorherbestimmt. Bei jeder Wolkenlücke heißt die Devise: Bauch einziehen, aufrichten, Schultern zurück! Der scheinbar so unselbstständige Schatten hat das Kommando übernommen und lässt sich, ein weiteres zunehmend lästiges Phänomen, auch nicht einfach abschütteln. Letztendlich hilft da nur der Schwenk in einen schattigen Waldweg, um die von der ungewohnten, orthopädisch korrekten Haltung schwer gebeutelten Muskeln und Sehnen nachhaltig zu entlasten. Denn hier verliert der Schatten urplötzlich die Kontrolle und muss hilflos mit ansehen, wie sein Erziehungsprogramm mal wieder gescheitert ist.

Haltung zeigen, Haltung bewahren. Das kleine Schattenspiel auf dem Rad zeigt deutlich, wie schwer uns das oft fällt. Wie gern lassen wir uns zurücksinken in unsere Komfortzone, obwohl wir wissen, dass das der falsche Weg ist. Wir lassen Probleme ungelöst liegen, in der Hoffnung, dass sich das alles schon irgendwie regelt. Wir beziehen nicht Stellung, aus Angst vor Unbequemlichkeiten, Gegenwind oder Ärger. Stattdessen bewundern wir viel lieber Menschen, denen die Haltung anscheinend in die Wiege gelegt wurde, die offensichtlich gar nicht anders können und uns das leidige und anstrengende Haltungsproblem durch ihr Engagement ersparen.

Zugegeben: Der unbarmherzige Schatten, der mir gestochen scharf meine Haltungsschwäche zeigt, der ist nicht unbedingt mein Freund. Aber stolz bin ich schon, wenn ich mal einen oder zwei Kilometer meine Haltung auf dem Rad bewahre. Sieht auch wirklich besser aus, tut den Knochen auf Dauer gut und steigert – auch das weiß ich ja – die Leistungsfähigkeit.

Haltung lohnt sich! Immer! Und es ist nie zu spät, eine gute, eine liebevolle, eine „menschenwürdige“ Haltung zu entwickeln.

Ich wünsche mir an vielen Stellen und in den unterschiedlichsten Bereichen unserer Gesellschaft mehr Mut, Energie und den klaren Willen, Haltung zu zeigen. Als Christen sollte uns das nicht schwerfallen, mit dem Blick auf Jesus, der selbst am Kreuz Haltung bewahrt und zu seinen Überzeugungen gestanden hat. Soweit müssen wir es sicher nicht kommen lassen. Aber ein wenig mehr unbequeme Zivilcourage, das könnten, das sollten – nein das müssen – wir uns leisten!

Ich wünsche mir an vielen Stellen und in den unterschiedlichsten Bereichen unserer Gesellschaft mehr Mut, Energie und den klaren Willen, Haltung zu zeigen. Als Christen sollte uns das nicht schwerfallen, mit dem Blick auf Jesus, der selbst am Kreuz Haltung bewahrt und zu seinen Überzeugungen gestanden hat. Soweit müssen wir es sicher nicht kommen lassen. Aber ein wenig mehr unbequeme Zivilcourage, das könnten, das sollten – nein das müssen – wir uns leisten!

Mit dem Wind … und zwischen dem Strom. Zwischen dem Strom? Naja, genau genommen neben beziehungsweise unter den Strommasten. Kenne Sie nicht mehr? Ich meine diese Masten, an denen ich die Stromleitungen in langen Wellen viele Kilometer über Felder und durch Wälder wiegen. Weniger die großen Überlandmasten, Stahlkolosse von immenser Höhe, die durch das Brummen der Starkstromleitung an ihrer Spitze nicht zu Unrecht eine furchteinflößende Atmosphäre verbreiten. Vielmehr meine ich die kleinen Holzmasten, die es auf Usedom und in anderen, eher ländlichen Gebieten noch gibt, weil sich die unterirdische Verlegung der Stromtrasse für die Betreibergesellschaft nicht rechnet.

Im Herbst dienen die schwarzen Leitungen, die sich in geringer Höhe von Mast zu Mast schwingen, den zahlreichen Zugvögeln als Startrampe in den Süden. Zu Hunderten besetzen sie die Leitungen, umkreisen die Masten und warten auf das Signal zum Aufbruch – von wem auch immer das kommen mag. Oft frage ich mich, wo sich all die reisefertigen Zugvögel ohne die schwarzen Leitungen zum Abflug verabreden würden. In einem großen Baum, auf Hausdächern oder an der Spitze eines Krans auf der Peenewerft? Auf alle Fälle müsste im Schwarm wahrscheinlich intensiv über eine neue Startbahn nachgedacht werden.

Gegen Ende des Sommers und bevor die große Reisewelle der Zugvögel einsetzt, sind die besagten Leitungen aber nur spärlich besetzt. Hier ein Spatz, dort eine Krähe und auch vereinzelte Schwalben oder Stare, die sich in luftiger Höhe in den spätsommerlichen Sonnenstrahlen räkeln. Aber was machen die da auf der Leitung? Nun gut, die Schwalben und Stare haben wahrscheinlich Angst, den Abflug zu verpassen, sind vielleicht neurotische „Zufrühkommer“ oder notorische Drängler. Aber die anderen Vögel, die den Winter über auf der Insel bleiben, was wollen die da oben auf der Stromleitung? Vielleicht auch einmal das Gefühl von Freiheit und Abenteuer genießen? Von einem langen Flug in den Süden träumen, vom Dolce Vita an den Stränden Italiens, lauen Winterabenden an der Costa Brava oder gar einem entspannten Cluburlaub an der Küste Nordafrikas? Alles viel besser als das nasskalte Winterhalbjahr an der stürmischen Ostsee, das leidige Futterproblem, wenn der Schnee die letzten Beeren und Körner verschwinden lässt, oder die mühsame Suche nach einem trockenen und nicht zu zugigen Plätzchen für die Nacht. Aber da sind ja der weite Weg und die Sprachhürde und dazu vielleicht als einziger Spatz in einem Schwalbenschwarm… . Dann doch lieber noch eine Runde im Wind schaukeln und auf einen milden Winter hoffen!

Oder nehmen die vereinzelten Vogel-Knubbel auf der Leitung nur einen gaaanz langen Anlauf in den Tag? Vor und zurück, vor und zurück, vor – und los! Oder doch noch nicht? Vielleicht hängt der ein oder andere gefiederte Leitungsschwinger aber auch einfach nur erschöpft ab, lässt nach zwei oder drei anstrengenden Brutgeschäften die Seele im lauen Ostseewind baumeln und will nur noch eines: seine Ruhe!So, oder so ähnlich stelle ich mir die Gedanken unserer einheimischen Vogelvertreter auf der großen Startrampe in den Süden vor.

Und merken Sie etwas? Haben Sie schon einmal die Insulaner gegen Ende der Saison genauer betrachtet, wenn sie vereinzelt in der Masse der abreisenden Gäste langsam wieder zum Vorschein kommen? Abgezehrt, den müden Blick verträumt in die Ferne gerichtet, den leicht schwankenden Schritt ziellos ins Nirgendwo gesetzt.

Das Brutgeschäft in diesem Sommer war tatsächlich wieder unglaublich anstrengend! Aber jetzt sind sie flügge, unsere Touristen. Gut erholt, sonnengebräunt und zurück auf dem Weg in ihre Heimat. Dazu mit allem versehen, um die anstrengenden Monate bis zum kommenden Sommer gut und erfolgreich zu meistern. Und zurück bleiben die Insulaner. Erschöpft, aber zufrieden, ihren Job erledigt zu haben. Wenn Sie könnten, würden sie sicher gemütlich auf einer der schwarzen Stromleitungen im Wind schaukeln. Aber sie finden – und das weiß ich sicher – auch andere Möglichkeiten, die Seele baumeln und die Saison ausklingen zu lassen. 

 

Mit dem Wind ... endlich mal alles in Ordnung gebracht! Das zumindest muss sich der Landwirt gesagt haben, als er seine Maispflanzen ordentlich in schier endlosen Reihen auf dem Feld eingepflanzt hat. Da tanzt keine aus der Reihe, und Bewegung bringt höchstens das ein oder andere Mäuschen zwischen die Legionen ordentlich ausgerichteter Jungpflanzen. Gestern erst bin ich an so einem Feld vorbeigekommen.

Irgendwann war dann aber Schluss mit Mais und ein wogendes Roggenfeld brachte etwas Abwechslung in die landschaftliche Eintönigkeit. Auch hier herrschte erkennbar eine gewisse Grundordnung. Die Halme ließen sich willig vom Wind in dieselbe Richtung biegen. Sanft schwangen sie im Gleichklang wie die Dünung auf der Ostsee hin und zurück. Kein Halm überragte dabei die anderen. Gerade so, als hätte ein ordnungsliebender Friseur einen riesigen Rasierer angesetzt und dem ganzen Feld einen radikalen Bürstenschnitt verpasst.

Obwohl: Die ein oder andere freche blaue Kornblume und immer mal wieder eine vorwitzige rote Mohnblüte durchbrachen nicht nur farblich die goldbraune Uniformität des Feldes, sie hielten sich auch nicht an die scheinbar verordnete Einheitsgröße. Drüber und drunter setzten sie ihre Farbakzente und boten gleichzeitig dem orientierungslosen Auge Halt. Schön so ein Feld, das scheinbar ordentlich, aber auf den zweiten Blick doch alles andere als eintönig daherkommt.

Aber da gab es auch noch ein drittes Feld, gleich neben dem Roggen und kurz vor dem Abzweig nach Sauzin. Ordnung war hier nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Hier ballte sich in wirren Haufen Heu, das, wohl am Vortag abgemäht und inzwischen getrocknet, vom Wind durch die Luft gewirbelt wurde, wie die Haare der Urlauber auf der Zinnowitzer Seebrücke.

Was für ein Chaos! Das müssen zumindest die Maispflanzen bei diesem Anblick gedacht haben und auch die Ähren des Roggenfeldes waren sicher der Ansicht, dass bei aller Toleranz ein wenig mehr Ordnung doch wohl angebracht sei. Schließlich kann auch in der Natur nicht alles völlig aus dem Ruder laufen. Wo kämen wir denn da hin?!

Hier Ordnung, da Chaos – hier Gleichklang, dort Disharmonie. Wie wunderbar, dass uns die Natur so viele lebensnahe Impulse liefert! Wäre doch herrlich, wenn unser Leben so geordnet verlaufen würde, wie uns das die wohlgeordneten Maispflanzen vormachen. Stressfrei, gut sortiert, alles an seinem Platz.

Zu langweilig, eintönig und dröge? Na gut, dann wenigstens ein Leben wie im Kornfeld. Harmonie mit kleinen Farbtupfern; bunten Highlights, die Abwechslung ins Leben bringen, ohne die harmonische Grundstimmung zu beeinträchtigen. Das wäre tatsächlich schön!

Und die Realität? Die ist in der Regel so ganz anders. So gleicht unser Leben nur selten einem wohlgeordneten Mais- oder einem harmonischen Kornfeld. Stattdessen bewegen wir uns mehrheitlich zwischen chaotischen, unsortierten, wirren Heuhaufen. Nie weiß man, welcher Halm einem als nächstes in die Quere kommt, durch welchen Haufen man sich gleich wieder wühlen muss oder welche Windbö das ganze Leben von einem Moment zum nächsten so richtig durcheinanderwirbelt.

Und während der Landwirt mit Sicherheit vor dem nächsten Gewitter das lose Heu in großen, gerollten Ballen zumindest in eine Art Grundordnung bringt, müssen wir mit den Heuhaufen unseres Lebens alleine klarkommen. Da gibt es niemanden, der für uns aufräumt, unser Leben in Ordnung bringt, uns gut verpackt vor Unheil bewahrt, bei Hitze bewässert oder Schädlinge von uns fernhält.

Ein Grund zu verzweifeln? Keineswegs! Wir haben zwar niemanden, der alles für uns regelt und passend macht, aber für uns als Christen ist das auch gar nicht prioritär. Im Gegenteil: Regeln haben wir von unserem „Chef“ durchaus bekommen, die uns das Leben mit- und füreinander um so Vieles leichter machen würden. Dazu gab es im Paket aber auch die Freiheit, mit diesen Regeln verantwortlich und gut umzugehen. Tun wir das, auch wenn es manchmal ein wenig mühsam ist! Und genießen wir dabei die Eigenverantwortung im Heuhaufen, das ungeordnete „Kollektiv“ und die Beweglichkeit in Gedanken und Taten, die uns als Menschen so besonders macht.

Und allen, die sich trotzdem nach einem geordneten oder auch verordneten Leben sehnen sei gesagt: Ordnung ist das halbe Leben, aber wer will schon auf die ganze wunderbare andere Hälfte verzichten?

Mit dem Wind   war alles besetzt! Nein, hier geht es heute nicht um die Strandkörbe am Hauptstrand von Zinnowitz, die besten Handtuch-Plätze ganz vorn an der Wasserlinie oder die hinteren Kirchenbänke im Sonntagsgottesdienst. Aber besetzt waren sie trotzdem alle, die Nistkästen im Garten unseres Ferienhauses. Letzte Woche war ich dort, um den Rasen zu mähen und danach gemütlich im Liegestuhl mit einer Tasse Kaffee und einem leckeren Stück Kuchen die Ruhe zu genießen.

Ruhe? Von Ruhe konnte keine Rede sein! Ahnungslos hatte ich meinen Liegestuhl genau zwischen drei unserer Nistkästen aufgestellt. Und da tobte das Leben oder besser gesagt die Meisen! Ein Flugverkehr wie am Frankfurter Airport zur Rushhour. Erstaunlich eigentlich, dass es zu keinen Kollisionen kam, so ganz ohne Fluglotsen und Leitsystem.

Eine Weile sah ich den Flugkünstlern von meinem Logenplatz aus gespannt zu und – da gab es einiges zu entdecken! Während im Kasten am Holzschuppen die Vogeleltern im Minutentakt ein- und ausflogen, ging es im Kasten auf der Veranda erheblich ruhiger zu. Und im Garagenkasten wurde scheinbar nur gechillt. Dort wechselte sich das Vogelpärchen höchstens alle 20 Minuten ab. Manchmal scheiterte die Landung im Kasten sogar daran, dass das andere Elternteil noch faul im Kasten saß – so zumindest mein erster Verdacht. Aber konnte das wirklich sein? Gibt es tatsächlich einfach richtige Rabeneltern, die ihren Nachwuchs auf Diät setzen nur, weil sie zu faul sind, für Futternachschub zu sorgen?

So richtig konnte ich mir das nicht vorstellen. Also hieß es ausharren auf der Liege, noch drei Tassen Kaffee trinken, das zweite Stück Kuchen und die restlichen Kekse verdrücken, beobachten und nachdenke. Und ob es jetzt am Zuckerschock oder meinem stark erhöhten Koffeinspiegel lag: Ich habe das Rätsel gelöst!

Das scheinbar oberfaule Vogelpärchen an der Garage hatte noch gar keinen Nachwuchs. Das kuschlige Nest war gebaut, die Eier gelegt und die Eltern teilten sich das Brutgeschäft. Bei den ebenfalls noch relativ entspannten Vogeleltern, die den Kasten an der Veranda bezogen hatten, war der Nachwuchs gerade geschlüpft und dementsprechend noch relativ bescheiden in seinen Ansprüchen, was die Menge der heranzuschaffenden Nahrung betraf. Die vermeintlichen Hektiker am Holzschuppen allerdings hatten im Nest mit Sicherheit einen Haufen halbwüchsiger Schreihälse mit riesigem Hunger.

These aufgestellt und überprüft! Nein, natürlich nicht, indem ich ans Häuschen geklopft und die Vogeleltern interviewt habe. Nachschauen verbot sich ebenfalls von selbst. Es reichte aber völlig aus, neben den Augen einen zweiten Sinn einzusetzen und mal ganz vorsichtig an den drei Kästen zu lauschen. Im Garagenkaste herrschte schläfrige Stille, während an der Veranda ein zaghaftes Rumoren aus dem Kasten drang. Am Holzschuppen war dagegen schon aus der Entfernung zu hören, dass der Nachwuchs nicht nur großen Hunger, sondern auch schon einen ganz schön frechen Schnabel hatte. Annahme bestätigt und Forschungsprojekt beendet, könnte man annehmen.

Der Nachmittag im Garten hat bei mir aber nachgewirkt. Nicht nur, dass mir die Menge an Kaffee und Kuchen schwer im Magen lag – vielmehr ist mir aufgefallen, wie schnell wir immer wieder mit Schubladen zur Hand sind, ohne nach dem Warum zu fragen. Natürlich haben wir nicht die Zeit, allem auf den Grund zu gehen. So viel Kaffee, Kuchen und Liegestuhlzeit steht uns nicht zur Verfügung. Aber vielleicht sollten wir dann Vorgänge, Menschen und Verhaltensweisen auch weniger vorschnell bewerten oder verurteilen.

Und eine zweite Einsicht verdanke ich der kleinen Vogelkunde in der Einflugschneise: Alles hat seine Zeit und seinen Ort. Auch wenn es manchmal schwerfällt sollten wir versuchen, öfter im Hier und Jetzt zu leben. Das brütende Vogelpärchen weiß ganz genau, dass der Stress bald beginnt und genießt die Ruhe vor dem Sturm. Die Jungeltern versorgen den Nachwuchs noch mit gebremstem Tempo und haben dadurch später ausreichend Kraft, die Horde der Halbstarken im Dauereinsatz zu verpflegen, denn da heißt es dann wirklich nur noch „Augen zu und durch“. Wir dagegen schaffen es viel zu oft nicht, zur Ruhe zu kommen, angesichts der vielen Dinge, die zukünftig unseren vollen Einsatz erfordern.

Machen Sie doch einfach regelmäßig mal den gemütlichen Brüter! Nicht nur, aber besonders im Urlaub in St. Otto.

Der Nachmittag im Garten hat sich für mich also richtig gelohnt, trotz verrenktem Magen. Zwei Einsichten und schließlich eine dankbare Erkenntnis: Bin ich froh, dass ich keine Kohlmeise bin! Zweimal Nachwuchs in einem Sommer großziehen und danach kommt dann schon wieder der nächste kalte und futterarme Winter! Ich möchte nicht tauschen und gelobe feierlich, dass ich mich nie mehr darüber beklage, wie anstrengend Rasenmähen ist.

Mit dem Wind ... hilft nur noch ein Wunder! So hat das eine Mitarbeiterin dieser Tage in Anbetracht der Corona-Pandemie formuliert. Ja, ein Wunder wäre nicht schlecht. Aber das müsste schon etwas umfangreicher ausfallen. Ein lokal begrenztes, diffuses Wünderchen mit abgeschwächter Wirksamkeit reicht da nicht aus. Das sehen wir schon an den Impfstoffen. Was wir brauchen ist ein stattliches, weltumspannendes, ausgewachsenes Wunder. Ein Wunder, das für alle Kontinente, alle Länder, alle Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht, das hilft, das Hoffnung schenkt, das Zukunft verheißt!

 Aber woher kriegt man so auf die schnelle ein wirkungsvolles Wunder? Und reicht eines überhaupt aus, angesichts der zahlreichen Katastrophen, die die Welt an so vielen Stellen heimsuchen, ja teilweise seit Jahrzehnten plagen und Millionen von Menschenleben kosten? Und – auch das muss man sich fragen – haben wir überhaupt ein Recht, einen Anspruch auf so eine Wunder-Tüte, wenn wir doch für die allermeisten Katastrophen selbst die Verantwortung tragen? Und schließlich: Wie verhindert man, dass so ein Wunder nicht wieder nur den Privilegierten, den „Besserverdienern“, denen, die immer auf der Gewinnerseite lauern, zur Verfügung steht?

 Fragen formulieren ist immer einfach, aber wer gibt die Antworten? Zur Thematik „Wunder“ möchte ich an dieser Stelle auf den „Wunderbeauftragten“ der katholischen Kirche verweisen. Im Nebenjob ist er auch für die anderen christlichen Kirchen zuständig. Seine Kollegen aus der Abteilung Wunder widmen sich den übrigen Weltreligionen, denn – das steht fest: Ohne Wunderbeauftragten funktioniert keine Glaubensgemeinschaft auf dieser Erde.

 Damit hätten wir die Verantwortlichkeit also schon mal geklärt. Das ist ja immer besonders wichtig für uns Menschen. Aber jetzt wird es schwierig. Es gibt nämlich keinen Rechtsanspruch auf ein Wunder. Wir können das Fehlen eines in unseren Augen dringend benötigten kleinen oder großen Wunders nirgendwo einklagen. Auch die über viele Jahrtausende Menschheitsgeschichte praktizierte Form des Opferns hatte keinen nachweislichen Einfluss auf die Häufigkeit oder das Eintreffen von Wundern im Allgemeinen.

 Wir können keine Wunder erzwingen, einfordern oder gar planen. Wunder passieren. „Wunder gibt es immer wieder …“, heißt es im Schlager – aber selbst der verweist darauf, dass sie „heute oder morgen“ geschehen können und legt sich dabei nicht fest. Unser Wunderbeauftragter lässt sich eben nicht in die Karten schauen, beeinflussen oder gar zum Handeln zwingen, und das ist gut so. Denn wenn wir Menschen wüssten, auf welche Art und Weise man bei Bedarf günstig an ein Wunder gelangen könnte – wir würden mit diesem Wissen genauso unverantwortlich umgehen, wie mit so Vielem, das uns anvertraut wurde. Das einzige unverwechselbare Merkmal, das alle Wunder eint, ist die Tatsache, dass sie immer, aber auch wirklich immer, unerwartet eintreffen. Darauf kann man sich verlassen!

 Jetzt also die Hände in den Schoß legen und verzweifeln, weil wir so gar nichts tun können, damit ein dringend benötigtes Wunder endlich eintrifft? Völlig falsche Entscheidung! Das Gegenteil ist der Fall. Weil wir nicht wissen, wann uns – und ob überhaupt – ein Wunder unterstützend zu Hilfe eilt, ist es wichtig, dass wir handeln. So viele Dinge, die auf dieser Erde in die falsche Richtung laufen, ließen sich bequem durch ein Wunder erledigen. Das Leben ist aber nicht bequem, und der Wunderbeauftrage ist auch kein Wellnessmanager, dessen Job es ist, uns das Leben so einfach und angenehm wie möglich zu gestalten. Er will – und davon bin ich fest überzeugt – dass wir uns selber anstrengen, um aus dieser Welt eine bessere zu machen. Er verspricht uns nicht den Himmel auf Erden, den wir uns so oft wünschen, sondern erwartet vollen Einsatz. Für das Gute, für seine Sache, für unsere Mitmenschen, für die Schöpfung. Wenn er den sieht – und auch daran glaube ich ganz fest –, dann schickt er auch mal ein Wunder auf den Weg. Vielleicht nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben, und oft auch völlig unbemerkt, aber in jedem Fall sitzt er nicht in seinem Büro, spitzt Bleistifte an und lässt uns wunderfrei in Hoffnungslosigkeit verfallen.

 Lassen Sie uns also aktiv und hoffnungsfroh in die Zukunft blicken und tatkräftig anpacken, wo es um die gute Sache geht. Wunderbar, wenn uns dann so ein unerwartetes Wunder zur Seite springt. Wenn nicht, dann ist unser Wunderbeauftragter mit Sicherheit gerade an einer anderen Stelle seiner Schöpfung gefordert. Darauf können wir vertrauen.

 In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen wunderbaren Mai! Und halten Sie die Augen und Ohren offen, für all das Schöne, das Gott uns schenkt: Denn …

 „Wunder gibt es immer wieder,

wenn sie dir begegnen

musst du sie auch sehn.“

                                                                                                   Katja Ebstein/“Wunder gibt es immer wieder“ 

Mit dem Wind …  einfach alles hinter sich lassen! Das geht ganz prima, wenn der Wind mal so richtig von hinten schiebt. 30 oder auch 40 km/h sind dann auch auf dem nicht motorisierten Fahrrad überhaupt kein Problem. Ein herrliches Gefühl, wenn die Landschaft förmlich an einem vorbeifliegt und alles, aber auch wirklich alles hinter einem zurückbleibt: Der Ärger des Tages. Die ganzen unerledigten Dinge, die Alltagssorgen, üble Krankheiten und Viren. Einfach all die Dinge, die uns im Leben so oft runterziehen, ausbremsen, den Tag vermiesen. Alles fällt wie weggeblasen von einem ab, wie der Kokon einer Raupe oder die Eierschale, die das Osterküken hinter sich lässt. Schon erstaunlich, wie einfach man dem ganzen Ballast davonradeln kann, der einem normalerweise bleischwer an Körper, Geist und Seele zu hängen scheint

Und wenn man schließlich anhält? Kommt dann alles einfach zurückgeschwappt? Holt uns der hauseigene Problem-Müllberg wieder ein oder begräbt er uns gar wie eine Monsterwelle unter sich, um uns für unseren Fluchtversuch zu bestrafen? Denn abgeschüttelt, das wissen wir, haben wir die Probleme auf dem Rad nicht. Dafür ist auch der stärkste Rückenwind zu schwach.

Ist also dieses wunderbare Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit im Moment des Anhaltens nur noch ein laues Lüftchen in unseren Erinnerungen? Nein! Auf eine ganz eigentümliche und unerklärliche Weise wirkt der Rückenwind nach, beflügelt uns manchmal sogar beim Lösen einzelner Probleme und lässt andere längst nicht mehr so bedrückend und übermächtig erscheinen. Schließlich hat man sie ja unterwegs ganz prima abhängen können. Zumindest für eine Weile. Und wenn das auf dem Rad mit so einem bisschen Rückenwind gelingt, dann kann es doch auch nach dem Anhalten und Absteigen nicht so schwer sein, die Dinge besser in den Griff zu bekommen.

Der Trick mit dem Rückenwind funktioniert übrigens auch auf dem Surfbrett, mit dem Segelboot, beim entspannten Joggen oder sogar – wenn auch nicht unbedingt umweltfreundlich – auf dem Motorrad oder im Auto. Da ist dann auch die Windrichtung relativ egal. Nur die Straße sollte frei sein, denn im Stadtverkehr versperren zu viele Hindernisse, Ampeln und Vorfahrtsregeln den fliegenden oder auch fliehenden Gedanken den Weg.

Aber ist das eigentlich gut und richtig? Darf man vor seinen Problemen einfach so davonradeln? Sich aus dem Staub machen und alles hinter sich lassen? Jesus hat das doch auch nicht gemacht. Er ist nicht davongelaufen! Dabei hatte er durchaus Optionen. Statt Gethsemane, Verurteilung und Kreuzigung hätte er einfach rechtzeitig auf einer Wolke Platz nehmen können, für ordentlichen Aufwind gesorgt und –Huiii – hätte er den ganzen Ärger auf dieser Erde unter und hinter sich gelassen. Kein Verrat, keine Folter, kein Kreuz – aber auch keine Auferstehung, kein Ostern.

Er hat sich für den schweren Weg entschieden. Sei es aus Fürsorge und Liebe zu uns Menschen, aus Pflichtbewusstsein gegenüber Gott, im Bewusstsein um seine Rolle und Verantwortung im Kontext der Heilsgeschichte oder aus einem ganz anderen Grund. 

Einfach abhauen oder wegradeln war schon damals keine Lösung. Das wusste Jesus und das wissen wir. Wirklichen Problemen kann man nicht entkommen. Das schaffen nicht einmal die Astronauten mit ihrer Rakete oder Speedy Gonzales, die schnellste Maus von Mexiko. Durchaus hilfreich und legitim ist es aber in meinen Augen, sich ab und an Luft zu verschaffen, den Rückenwind zu nutzen, um durchzuatmen, die Fesseln abzustreifen, um sich zu strecken und zu dehnen – und so einen klaren und unbelasteten Blick auf das gesamte Problemgemenge hinter sich werfen zu können. Und selbst wenn dann die Analyse der Problemlage in ein „Augen zu und durch!“, mündet, dann heißt es: Vom Rad absteigen! Aufrichten! Allen Mut zusammennehmen und Problem angehen! Das alles sollte uns als Christen möglich sein, im festen Wissen darum, dass auf jeden Karfreitag das Osterfest folgt.

Nehmen Sie also den ersten warmen Frühlingswind in ihrem Rücken dankend an. Denken Sie nicht an den Gegenwind, denn der kommt früh genug. Tanken Sie stattdessen beim Dahingleiten Kraft und Mut, und nutzen Sie die Chance, um einen klaren Blick auf sich und die Welt zu gewinnen! Frohe und gesegnete Ostern!

Mit dem Wind … den richtigen Halt suchen. Ja, aber was ist es, das mich hält? Mein Hund braucht sich diese Frage nicht zu stellen. Der hängt ganz einfach an seiner Leine und fühlt sich richtig gut dabei. Er muss sich nicht dauernd umschauen, ob sein Rudel auch wirklich folgt, ob Herrchen vielleicht verlorengeht und um den Rückweg zum heimischen Fressnapf muss er sich auch nicht kümmern. Manchmal denke ich, er sieht das Leinen-Verhältnis ganz anders als ich. Nicht er hängt an der kurzen Leine, sondern ich bin angeleint. Was hält mich? Wer hält mich?

Da steht ein altes, halb verfallenes Haus an der Kreuzung in Mahlzow. Das Dach aus Reed und Blech zusammengeschustert und doch halb eingestürzt. Die eine Seitenwand aus Ziegelsteinen lehnt an der Holzwand der Giebelseite. Duzende Balken und Holzpfähle stützen von außen. Seile und Schnüre waren gespannt und sind längst zerrissen und das Haus steht trotzdem. Eine Ruine. Aber wer stützt da eigentlich was? Hält die Ziegelwand die Holzseite und wäre die nicht wiederum längst eingestürzt, wenn nicht der Dachstuhl auf ihr lasten würde? Oder verharrt das Gerippe aus Reed und Blech nur deshalb in luftiger Höhe, weil es sich beim Versuch zusammenzubrechen so ineinander verkeilt hat, dass es gar nicht mehr einstürzen kann? Was hält uns? Wer hält uns? 

Unser Leben ist eine ständige Suche nach Halt, nach Stütze und Stabilität. Und gleichzeitig wollen wir nicht festgehalten werden, streben nach Freiheit, Selbstständigkeit und verabscheuen die Kontrolle durch andere. Wie mein Hund übrigens. Wenn Abenteuer oder Leckereien am Wegesrand locken, dann würde er liebend gern auf den Halt der Leine verzichten. Wenn sich allerdings der große, böse Wolf nähert, dann traut er sich dieses Monster nur deshalb heldenhaft zu verbellen, weil er seinen vermeintlichen Beschützer direkt und gut angeleint hinter sich weiß. 

Ein sicherer Halt macht mutig. Ein Halt, auf den ich mich verlassen kann, stellt die Basis dar, um Neuland zu erkunden. So ein Haus mit einem guten, festen Fundament verfügt über einen Halt, der einem Zelt oder einer Holzhütte fehlt. Eine glückliche Familie kann den Kindern viel Halt vermitteln, bei deren Start ins Leben. Ein guter Job und das Wissen um ein gesichertes Einkommen geben Selbstvertrauen und lassen optimistisch in die Zukunft schauen. Und doch: Oft kommt alles ganz anders. Da ist der so sicher geglaubte Job auf einmal in Gefahr, weil die Firma umstrukturiert wird. Eine Familie zerbricht durch Trennung, Krankheit oder gar den Tod eines Partners. Die Leine, die so fest und wichtig war, reißt ganz unvermittelt. Manchmal kommt diese „Haltlosigkeit“ plötzlich und unerwartet. Oft kündigt sie sich allerdings schon lange vorher an. Die splissige Leine, die man schon längst ausgetauscht haben wollte, das Haus, in dessen Pflege und Erhaltung man in den letzten Jahrzehnten weder Zeit noch Geld investiert hat, oder auch die Beziehung, die seit Jahren mehr Zweckgemeinschaft als Partnerschaft ist. Viel zu oft schauen wir dem Verfall einfach zu, ignorieren aus Bequemlichkeit, Zeitmangel, Desinteresse oder vielen anderen Gründen den Zustand unseres Ankers. Und dann wundern wir uns, wenn das Seil unvermittelt reißt, uns der Halt wegbricht und unser sicher geglaubtes Lebensgebäude in sich zusammenstürzt.

 Daraus zu folgern, dass wir ständig angsterfüllt unsere Umgebung auf Standfestigkeit, Bindungskraft, Verlässlichkeit oder Perspektive hin überprüfen und für den Fall der Fälle mindestens fünf „Ersatzknotenpunkte“ in der Hinterhand haben sollten, wäre der völlig falsche Ansatz. Etwas mehr Achtsamkeit, Pflege, Wartung oder auch Sanierung anstatt alles bequem auszusitzen oder substanzielle Probleme schönzureden hat allerdings schon manches Haus erhalten, hat Beziehungen vor dem Zerbrechen bewahrt und so den Halt gesichert, den wir alle brauchen.

Halt gibt es nicht umsonst. Während die Bremsen im Auto regelmäßig vom TÜV auf ihre Funktion, ihre „Haltefähigkeit“ hin überprüft werden, sind wir für viele andere Sicherheits- und Haltevorrichtungen in unserem Leben selbst verantwortlich. Schimpfen wir also nicht auf den Hersteller oder den Hund, wenn die Leine reißt. Klagen wir nicht den Partner an, wenn die Beziehung in die Brüche geht. Fluchen wir nicht vorschnell auf die Baufirma, wenn unser Haus einstürzt. Fragen wir uns stattdessen lieber, was wir eigentlich zum Erhalt der Beziehung, des Hauses oder meinetwegen auch der Hundeleine beigetragen haben. Und das am besten rechtzeitig, denn manchmal gibt es – wie beim Fallschirm – noch eine zweite Leine, eine zweite Chance bevor alles in zerreißt oder in sich zusammenstürzt.

 Und wenn so ein wichtiger Halt dann schließlich doch, trotz liebevoller Pflege, sorgfältiger Wartung und viel Zuwendung und Aufmerksamkeit - oder auch ganz plötzlich - wegbricht? Dann gibt es da natürlich noch den Halt, der uns Christen unser ganzes Leben begleitet. Oft ist er ganz tief unter all dem Alltagströdel, der uns umgibt, vergraben und muss zunächst mühsam gesucht und vielleicht auch erst einmal aktiviert werden. Manchmal liest sich die Gebrauchsanleitung zunächst etwas mühsam, aber im Grunde ist sie auch für den Laien leicht verständlich. Ja und schließlich braucht es Mut, einem eher antiquierten und aus der Mode gekommenen Halte- und Sicherheitssystem zu vertrauen.

Aber glauben Sie mir: Das System hält, was es verspricht! Anwendungsfehler können nahezu ausgeschlossen werden und auch die Nebenwirkungen sind vollkommen unschädlich.

Mit dem Wind … ab in die nächste Welle. Die nächste Welle? Im Februar? Der spinnt wohl! Das zumindest denke ich immer, wenn ich die Eisbader bei ihren Events beobachte. Keine 10 Seehunde würden mich dazu bringen, mit Anlauf und voller Absicht in die 2°C kalte Ostsee zu springen. Brrrr! Allerdings: Gut ausgerüstet, mit Gummistiefeln und dicken Socken, kann ich mir auch im Winter eine vorsichtige Begegnung mit dem eiskalten Nass vorstellen. 

Natürlich muss man sich sehr in Acht nehmen. Nicht dann, wenn die Ostsee wieder einmal spiegelglatt, wie ein ausgeschalteter Flachbildschirm oder eine schläfrige Flunder, in den spärlichen Wintersonnenstrahlen badet. Das kommt in den Wintermonaten aber eher selten vor. Denn Dezember, Januar und Februar sind die Monate, in denen sich selbst die Ostsee, die kleine Schwester von Nordsee und Atlantik, mal so richtig ins Zeug legt und zeigt, was sie in den Fächern „Sturmbrausen“, und „Wellenberge auftürmen“ schon so alles gelernt hat. 
 Bei nasskalter, stürmischer Witterung kann die Begegnung zwischen Gummistiefel und Welle schon mal zu einer echten Herausforderung für den beschuhten Wasserfreund werden. Wellen, die sich dem Strand nähern, sind nämlich vor allem Eines: Unberechenbar! Zumindest auf den ersten Blick. Aber ganz so mysteriös und überraschend ist die Welt der Wellen dann doch nicht, und damit der nächste Strandausflug bei Sturm nicht mit einem überfluteten und eiskalten Gummistiefel endet, gibt es an dieser Stelle die „Kleine Wellenkunde Teil 1“. Praxiserprobt natürlich und mehrfach evaluiert. 

Beginnen wir mal mit den richtigen Brechern, die mit einem mächtigen Aufschlag auf den Strand rollen. Kurz vor dem Ufer schlagen sie tosend um und rollen mit mächtiger Geschwindigkeit und ohne Rücksicht auf Verluste den Strand hinauf. Da hilft nur die rasche Flucht, will man nicht im nächsten Moment bis zum Knie im Wasser stehen. Zum Glück sind diese Brecher meist rechtzeitig zu erkennen. Wer aufs Meer schaut, sieht sie heranrollen, und wer seine Augen mit Suche nach Bernsteinen schon gut ausgelastet hat, der sollte zumindest die Ohren spitzen. Die richtig ordentlichen Wellen sind nämlich nicht nur imposante Erscheinungen, sondern auch entsprechend laut, wenn sie umschlagen. Beim Zurücklaufen ins Meer behindert so ein Brecher dann allerdings auch seine Nachfolger, bremst sie aus und man ist für einige Augenblicke in Sicherheit vor neuem Ungemach. Alles in allem gilt: Große Wellen kann man rechtzeitig erkennen und größeres Unheil mit etwas Aufmerksamkeit gut verhindern.
 Jetzt gibt es aber auch die Teamarbeiter unter den Wellen. Nicht besonders groß, nicht laut, nicht eindrucksvoll – aber umso nachhaltiger. Meist sind sie es, die für die nassen Füße sorgen, denn sie werden nur allzu oft unterschätzt. Vorausgeschickt wird ein kleines, unschuldiges Wellchen. Aber bevor das den Strand erreicht, sich dort totläuft und langsam zurück ins Meer fließt, nimmt es eine zweite und gern auch eine dritte Welle huckepack mit auf den Weg. Mit Vorliebe dann auch die etwas kräftigeren Exemplare. Wie bei einem Staffellauf rollt dann zuerst das kleine Wellchen auf den Strand, übergibt rechtzeitig den Staffelstab an Nr. 2 und für den Schlussläufer, die Welle Nr. 3, ist es dann ein Leichtes, den Fuß des unvorsichtigen Strandläufers zu erreichen. Wasser im Schuh – Ziel erreicht! Ich habe das ein oder andere kleine Wellenpaket schon amüsiert kichern hören, wenn es nach erfolgreicher Arbeit sanft und ohne großen Aufruhr wieder ins Meer zurückgeflossen ist.

Wellen haben derzeit nicht unbedingt Hochkonjunktur, was ihren Beliebtheitsgrad betrifft. Das liegt aber weniger am Wasser als vielmehr an der flexiblen Verwendung des Begriffs in anderen Bereichen. Darüber möchte ich aber an dieser Stelle nicht nachdenken. Das tun wir schon den ganzen Tag und mindestens die halbe Nacht. Nehmen wir die Ostseewellen, wie sie sind – und doch an der ein oder anderen Stelle unseres Lebens zum Anlass, nicht gleich die ganz große Keule oder den Hammer auszupacken, sondern uns nach einem erfolgsversprechenden Team umzuschauen, um die Probleme und Aufgaben, die uns das Leben stellt, zu bewältigen. 

 

 Mit dem Wind … sind sie sooo schnell wieder weg. Die guten Vorsätze für 2020. Aber immerhin gab es sie mal – vor einem Jahr. Bestimmt! Denn gute Vorsätze gehören so fest zu Silvester und dem Jahreswechsel wie die Christmette zur Heiligen Nacht. Manche Menschen verzichten ja in vorauseilendem Pessimismus schon seit Jahren darauf, gute Vorsätze zu Beginn eines jeden neuen Jahres zu fassen. „Wird eh nix draus!“ „Alles nur Selbstbetrug!“ „Hab ich in den letzten Jahren auch nicht durchgehalten!“ Und sie haben auch gleich die passenden Belege für ihre defätistische Einstellung parat: Da der Hinweis auf die Waage, die anstatt der geplanten 5 Kilo weniger sogar 3 Kilo mehr anzeigt als zu Silvester vor einem Jahr. Dort der Glimmstängel, der weiterhin problemlos zum Anzünden der Böller verwendet werden kann, denn der gute Vorsatz das Rauchen einzustellen, ist wieder mal gescheitert. Oder der völlig überflüssige alljährliche Kater am Neujahrsmorgen, weil man am Silvesterabend mal wieder vergessen hat, dass sieben Gläser Feuerzangenbowle im Mix mit Bier, Wein und weiß der Teufel wie vielen sonstigen alkohöllischen Gemischen einfach unverträglich sind. 

Monumente und Zahlen des Versagens, der persönlichen Niederlage, die ganz klar zu beweisen scheinen, dass gute Vorsätze nur Schall und Rauch oder Knall und Feuerwerk sind. Verpufft schon mit der letzten Rakete um 1:23 Uhr oder spätestens verraucht, im trüben Grau der immer noch schwarzpulvergeschwängerten Luft eines silvestermüden Neujahrstages.

Erinnern Sie sich noch daran, was 2020 auf Ihrer persönlichen „Gute-Vorsätze-to-do-Liste“ stand? Ich habe es tatsächlich vergessen, kann also gar nicht überprüfen, ob sich aus irgendeinem Ansatz etwas Positives entwickelt hat. Irgendwie peinlich. Haben die Zweifler vielleicht recht? Sind die guten Silvestervorsätze nichts anderes als das Bleigießen, Miss Sophies 90ster Geburtstag, die Zigarre zur ersten Rakete oder das Knallbonbon mit Binsenweisheit? 

Ja und Nein, meine ich. Wenn man die guten Vorsätze tatsächlich ohne großes Nachdenken, wie einen Böller entzündet, dann zerplatzen sie mindestens ebenso schnell, hinterlassen bestenfalls einen üblen Geruch oder Ohrenschmerzen und liegen spätestens am Neujahrstag wie die Papierfetzen des letzten Böllers in einer schmutzigen Pfütze aus geschmolzenem Schnee und verschüttetem Sekt. Solche Vorsätze haben eine denkbar geringe Halbwertzeit.
Es gibt aber auch die anderen. Die Vorsätze, die nicht aus einer spontanen Laune heraus entstehen, sondern schon lange in uns schlummern und von der nahenden Böllerflut zu Silvester aus ihrem Dornröschenschlaf gesprengt werden. Decke wegziehen und der Realität unverhüllt ins Auge schauen! Das ist die erste Voraussetzung – und die hört sich leider viel leichter an, als sie es ist! Um einen guten Vorsatz zu fassen und etwas (ver-)ändern zu wollen, bedarf es nämlich zunächst des Eingeständnisses, dass Veränderung tatsächlich Not tut. Dies fällt uns meist unendlich schwer, denn ein „Weiter so“ scheint fast immer der einfachere Weg zu sein. Und nach der Einsicht? Kommt das Handeln! Und während für die Erkenntnis schon eine ordentliche Portion Mut zur Selbstreflexion erforderlich ist, steht vor dem Handeln ein ganzer Berg von Ausreden, Entschuldigungen und Ausflüchten.

Neu ist das jetzt alles nicht wirklich, und – ganz ehrlich – oft, sehr oft, scheitere ich schon am ersten Hindernis. Das ist aber gar nicht schlimm. Denn wenn es so einfach wäre, gute Vorsätze auch umzusetzen, dann könnten wir uns das ganze Gewese darum sparen und einfach „machen“. Ist es aber nicht. Und gerade deshalb ist es wichtig, die Vorsätze nicht nur lapidar, so nebenbei zwischen zwei Raketenstarts zu zünden, sondern durchaus gründlich darüber nachzudenken, was ich mir da zumuten will. Und dann – versprechen will ich Ihnen aber nichts – gelingt es vielleicht doch, den ein oder anderen Vorsatz 2021 zu realisieren. Und eventuell erinnere ich mich ja an meine guten Vorsätze aus dem letzten Jahr deshalb nicht mehr, weil ich sie inzwischen alle umgesetzt habe und sie mir so alltäglich und gar nicht mehr besonders erscheinen …

„Think positiv!“ Das ist es, was wir gerade am Beginn dieses Jahres besonders beherzigen sollten. Positiv denken, gründlich gute Vorsätze fassen, Mühe und guten Willen investieren und nicht verzweifeln, wenn das am Ende vielleicht nicht ganz ausreicht. Da gibt es dann noch einen, der immer mal völlig unerwartet Erste Hilfe leistet: beim Vornehmen, beim Umsetzen, beim Durchhalten, beim Mut haben, beim Nichtvergessen – beim Glauben!

 

Mit dem Wind … das Leben teilen. Und nein – es geht hier mal nicht ums Abgeben! Der heilige Martin, der hat seinen Mantel geteilt. Und an vielen Stellen des Neuen Testaments ruft Jesus zum Teilen auf, mahnt Selbstlosigkeit und Großzügigkeit immer wieder an. Und es ist ja sogar möglich, das Leben zu teilen, mit einem Partner oder einer Partnerin. In guten wie in schlechten Zeiten - wenn man Glück hat und an sich arbeitet. Sich „mitteilen“ wäre auch noch eine Option. Also etwas Sinnvolles oder Nützliches von sich geben und andere daran teilhaben lassen. Zugegeben: Nicht immer ist der Empfänger automatisch glücklich darüber, was ihm so mitgeteilt wird, aber das ist ein anderes Problem. 

 Für uns als Christen oder auch für den praktizierenden Humanisten ist in jedem Fall der Begriff des Teilens zunächst einmal positiv besetzt. Die Bereitschaft zu teilen unterscheidet uns von Egoisten, Geizhälsen oder selbsternannten Ich-AGs.

Und trotzdem sage ich an dieser Stelle „Nein“: Das Leben kann man nicht teilen! Aber leider wird gerade das viel zu häufig versucht. Sie kennen alle das Gefühl der Zerrissenheit, wenn Sie versuchen, ihre Aufmerksamkeit, Lebenszeit und Energie zwischen unterschiedlichen Bereichen, Aufgaben, Terminen oder Anforderungen aufzuteilen. Meist schafft man weder das Eine noch das Andere so, wie man sich das vorgestellt hat. Im Gegenteil: Regelmäßig wird einem vorgehalten, was noch fehlt, wo man unzureichend oder unzulänglich agiert hat oder im schlimmsten Fall bekommt man absichtliche Nachlässigkeit attestiert. „Das liegt an der fehlenden Organisation, am mangelhaften Zeitmanagement und der falschen Priorisierung“, wird man Ihnen bei einem entsprechenden Coaching erklären. Und der Psychologe, den Sie in ihrer Verzweiflung vielleicht aufsuchen, hat auch einen guten Rat zu Hand: „Denken Sie zuerst an sich! Finden Sie heraus, was Ihre Bedürfnisse sind und vor allem: Trennen Sie Privatleben und Beruf, Arbeit und Erholung!“ Vielleicht gibt es auch noch den guten Freund, der helfen will: „Du musst wieder mehr für dich machen!“, lautet der wohlmeinende Rat – und verpasst Ihnen damit den nächsten Arbeitsauftrag. 

Alle diese Ratschläge sind sicher nicht falsch. Nicht umsonst gibt es Coaches, Therapeuten und gute Freunde – wobei nur letztere ihren Rat gratis verteilen. Aber ist das Leben wirklich aufteilbar, in privat und beruflich, Freizeit und Arbeit, Partner, Kinder, Freunde und, und, und? Auf dem Papier sicher, aber in der Realität? Ordnen, ja das geht und hilft bestimmt, um ab und an Licht ins Chaos des Lebens zu bringen. Aber aufteilen, wie rechts oder links, schwarz oder weiß, Eis oder Chips, Krimi oder Schnulze? Das funktioniert nicht! Liegt schon daran, dass das Leben nicht statisch, sondern immer in Bewegung ist. Das Leben anhalten, um sich mal einen Überblick zu verschaffen? Keine Chance! Versuchen Sie mal, einen Wasserfall anzuhalten oder Ordnung in einen Strudel zu bringen. Das Leben ist viel zu komplex für alle Ordnungs- und Ablagesysteme, die uns zur Verfügung stehen.

Gerade bei der immer wieder geforderten Trennung von Beruf- und Privatleben wird unser Dilemma besonders deutlich: Auch, wenn kein Familienbild mehr auf dem Schreibtisch steht -  lege ich deshalb meine privaten Gedanken am Eingang des Betriebes neben der Zeiterfassung in ein Körbchen? Und wenn ich zu Hause keine Dienstmails lese und auch das Diensthandy in der Jackentasche lasse – fallen dann alle ungelösten beruflichen Probleme vor der Haustür von mir ab und räkeln sich dort entspannt im Gras, bis ich sie am nächsten Morgen wieder aufsammle? Schön wäre es manchmal, aber so funktioniert das Leben nicht. Und weil das so ist, weil Leben eben nicht teilbar ist, nützt es auch nichts, wenn ich verbissen versuche zu teilen, was unteilbar ist, zu sortieren und zu trennen, was zusammengehört. Genauso wenig, wie ich selbst als Multitaskinggenie mehreren wichtigen Aufgaben gleichzeitig gerecht werden kann, genauso wenig kann ich mein Leben präzise filetiert in vorbildlich sortierte Schubladen verteilen, die ich – ganz nach meinem Bedarf – öffne und schließe. 

Ordnung ist das halbe Leben – aber eben nur das halbe. Der Rest ist Chaos, ist Lebendigkeit, ist ungeplant und auch mal anstrengend, ist abwechslungsreich und überraschend, fordernd und spontan – und gehört zu meinem ganzen Leben.

Gehen Sie sorgsam mit Ihrem Leben um! Es ist Ihr Leben! So einzigartig, so persönlich, so individuell, chancenreich, großartig und ein Geschenk! Herzlichen Glückwunsch!